Band 83e Joseph Conrad

 

-  Band 83e -  Band 83 - bei amazon  

Der Seefahrer und Schriftsteller Joseph Conrad ...

 

 

ISBN: 978-3-748535-85-0

Direkt bei epubli.de für 18,99 € online bestellen

-  Band 83 - bei amazon  

als Direct Deposit by On Demand Publishing, also als amazon-Direktdruck-Printbücher

 Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller
 

Band 83 - ISBN 978-3-7380-6629-6

Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller

 4-Sterne-Rezension bei amazon

Ein großartiger Seemann und Erzähler. Seine Beobachtungen gehen tief in die Seele der Menschen hinein und lassen Respekt und Mitgefühl erkennen.

Joseph Conrad, 1857 in der heutigen Ukraine gebürtiger Pole und späterer britischer Staatsbürger, kannte die Seefahrt des 19. Jahrhunderts auf fast allen Meeren und das Leben in vielen Häfen. Dieser Band würdigt den bekannten Nautiker und Schriftsteller Joseph Conrad, den Klassiker maritimer Weltliteratur. Seine tiefsinnigen Erzählungen sind voller spannender Dramatik und vermögen auch heute noch nach weit über hundert Jahren Seeleute und maritim interessierte Leser tief zu berühren. Nur einige wenige seiner Erzählungen über seine eigenen Erlebnisse auf See werden in diesem Band wiedergegeben, um zum Lesen weiterer Werke aus seiner Feder anzuregen.

Leseprobe aus "Die Schattenlinie" - aus dem Englischen übertragen von Elise McCalman:

I

Nur junge Menschen kennen solche Augenblicke. Ich meine nicht die ganz jungen. Nein. Die ganz jungen kennen eigentlich keine Augenblicke. Es ist das Vorrecht der Jugend, in der Zukunft zu leben, in all der schönen, stetigen Hoffnung, die keine Pausen und keine Selbstbetrachtungen kennt.

Man schließt die kleine Gittertür der Knabenzeit hinter sich und – tritt in einen verzauberten Garten ein. Selbst die Schatten darin erglühen verheißungsvoll. Jede Wendung des Pfades hat ihr Verführerisches. Nicht weil es ein noch unentdecktes Land ist. Man weiß sehr wohl, dass alle Menschen den gleichen Weg gegangen sind. Von dem Zauber allgemein menschlicher Erfahrung erwartet man einen außergewöhnlichen oder persönlichen Eindruck – ein Stückchen Eigenes.

Man geht dahin und erkennt die Merksteine seiner Vorgänger – angeregt, belustigt nimmt man die guten und schlechten Tage hin – die Not sowie das Brot, wie der Volksmund sagt –, das allen gemeinsame, eigenartige Schicksal, das für die Verdienstvollen – oder ist es nur für die vom Glück Begünstigten? – so viele Möglichkeiten birgt. Ja, so geht man dahin. Und die Zeit geht auch dahin – bis man nicht mehr weit entfernt eine Schattenlinie bemerkt, eine Mahnung, dass man auch das Reich der sorglosen Jugend hinter sich lassen muss.

In diese Lebensspanne pflegen solche Augenblicke, von denen ich vorhin sprach, zu fallen. Welche Augenblicke? Nun, die der Langeweile, des Überdrusses, der Unzufriedenheit. Unbesonnene Augenblicke. Solche Augenblicke meine ich, in denen die Jugend geneigt ist, unüberlegte Handlungen zu begehen, wie zum Beispiel sich plötzlich zu verheiraten, oder eine Stellung ohne Grund aufzugeben.

Diese Erzählung ist nicht die Geschichte einer Ehe. So schlimm stand es denn doch nicht um mich. Meine Handlung, so unbesonnen sie war, glich eher einer Scheidung – beinahe einer Flucht. Es lag kein stichhaltiger Grund vor, meine Arbeit hinzuwerfen – meinen Posten aufzugeben – und ein Schiff zu verlassen, dem man höchstens den Vorwurf machen konnte, dass es ein Dampfer war und darum vielleicht keinen Anspruch auf die blinde Treue machen konnte, die – – –. Wie dem auch sei, es hat jedenfalls keinen Zweck, zu versuchen, eine Handlung zu beschönigen, die ich sogar schon damals im Stillen für eine bloße Laune hielt.

Es war in einem Hafen im Orient, und das Schiff war insofern ein Orientschiff, als dieser Hafen damals sein Heimathafen war. Auf einem blauen, von Felsenriffen zerklüfteten Meer trieb es Handel zwischen abgelegenen Inseln. Am Heck wehte die englische rote Flagge und im Topp die Kontorflagge, die auch rot war, jedoch grün umrändert und mit einem weißen Halbmond darauf, denn das Schiff gehörte einem Araber, und zwar einem Abkömmling eines einstigen Fürstenhauses. Daher der grüne Rand der Flagge. Einen treueren Untertan des Vereinigten Britischen Reiches als diesen Abkömmling des arabischen Herrscherhauses hätte man östlich des Sueskanals nicht finden können. Um die hohe Politik kümmerte er sich nicht, aber er schien über seine Stammesgenossen eine große, geheimnisvolle Macht zu besitzen.

Uns war es gleich, wem das Schiff gehörte. Der Besitzer war gezwungen, Weiße für sein Reedereigeschäft anzustellen, und viele von denen, die in seinem Dienste standen, hatten ihn vom ersten bis zum letzten Tag nicht zu Gesicht bekommen. Ich selbst sah ihn nur einmal, und zwar ganz zufällig, auf einer Werft – ein alter, dunkler, kleiner Mann war es, auf einem Auge blind in einem schneeweißen Gewand und mit gelben Pantoffeln an den Füßen. Eine Schar malaiischer Pilger, denen er etwas geschenkt hatte – Geld oder Nahrungsmittel –, küsste ihm gerade leidenschaftlich die Hände. Später erfuhr ich, dass seine Wohltätigkeit sich fast über den ganzen Archipel erstreckte. Denn heißt es nicht: „Der Wohltätige ist der Freund Allahs“?

Um diesen trefflichen und eigenartigen arabischen Schiffsreeder brauchte man sich nicht zu kümmern, sein schottisches Schiff war vom Kiel aufwärts ein vortreffliches Seeschiff, leicht sauber zu halten, in jeder Hinsicht handig, und von seiner Triebkraft abgesehen, ein Schiff, das der Liebe eines jeden würdig war. Bis auf den heutigen Tag denke ich seiner in aufrichtiger Verehrung. Was die Art des Handels, den wir trieben, und den Charakter meiner Kameraden anbelangt, so hätte ich nicht glücklicher sein können, wenn ein gütiger Zauberer mir Leben und Leute nach meinem Befehl beschert hätte.

Und plötzlich verließ ich das alles. Ich verließ es in jener uns so inkonsequent erscheinenden Weise, in der ein Vogel von einem bequemen Ast fortfliegt. Es war, als ob ich unbewusst ein Flüstern, gehört oder etwas gesehen hätte. Nun – vielleicht! Am Tage vorher war ich vollkommen zufrieden, und am nächsten Tage war alles weg – der Zauber des Lebens, der Geschmack daran, das Interesse, die Lust – alles. Es war eben einer jener Augenblicke, wissen Sie. Wie eine Kinderkrankheit, die einen in späteren Jünglingsjahren befällt, packte es mich und raffte mich fort. Von jenem Schiff nur, meine ich.

Wir waren vier Weiße an Bord. Die übrige zahlreiche Mannschaft bestand aus Kalaschen und zwei malaiischen Bootsleuten. Der Kapitän starrte mich sprachlos an, als fragte er sich, was mir eigentlich fehle. Aber er war Seemann und auch einmal jung gewesen. Bald spielte unter seinem dichten, grau melierten Schnurrbart ein verstecktes Lächeln, und er bemerkte, dass, wenn ich keine Lust zu bleiben habe, er mich natürlich nicht mit Gewalt zurückhalten könne. So kamen wir überein, dass ich am nächsten Tage abmustern sollte. Als ich gerade das Kartenhaus verlassen wollte, fügte er plötzlich in einem eigenartig wehmütigen Ton hinzu, er hoffe, ich würde das auch finden, was ich so begierig zu suchen schien. Diese milde, bedeutungsvolle Äußerung drang tiefer als irgendein diamantscharfes Werkzeug es hätte tun können. Ich glaube wirklich, dass er mich verstand.

Der Zweite Ingenieur jedoch ging weniger zart mit mir um. Er war ein stämmiger junger Schotte mit einem glattrasierten Gesicht und hellen Augen. Zuerst schaute nur sein ehrliches, rotes Gesicht aus der Lukenkappe des Maschinenraums, und dann kam der ganze robuste Mann mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln zum Vorschein, während er langsam und bedächtig die kräftigen Unterarme mit einem Bund Putzwolle abwischte. Seine hellen Augen blickten mich förmlich angewidert an, als wäre unsere Freundschaft ein Häufchen Asche geworden. Er sagte gewichtig: „Nun ja! Ich habe mir schon lange gedacht, dass Sie bald nach Hause laufen und irgendein dummes Mädel heiraten!“

In dem ganzen Hafen war es eine stillschweigend anerkannte Tatsache, dass John Nieven ein wütender Weiberfeind war. Das Lächerliche an seiner Bemerkung ließ mir keinen Zweifel, dass er beabsichtigt hatte, boshaft – sehr boshaft – zu sein und das Vernichtendste zu sagen, was er nur erdenken konnte. Mein Lachen hatte einen abbittenden Klang. Nur ein Freund konnte so bitterböse sein. Ich war etwas niedergeschlagen. Das Urteil unseres Ersten Ingenieurs über meine Handlungsweise war auch charakteristisch für ihn, aber er drückte es wohlwollender aus.

Auch er war jung, aber sehr mager, mit einer Wolke flaumartigen Bartes um sein hageres Gesicht. Den ganzen Tag, mochten wir in See oder im Hafen sein, konnte man ihn auf dem Achterdeck hastig auf und ab gehen sehen, wie abwesend und intensiv mit höheren Dingen beschäftigt; in Wirklichkeit jedoch waren es ständige unangenehme physische Empfindungen in seinem Innern, die diesen abwesenden Ausdruck verursachten, denn er hatte ein chronisches Magenleiden. Seine Ansicht über meinen Fall war sehr einfach. Er meinte, es sei weiter nichts, als eine Verdauungsstörung. Natürlich! Er empfahl mir, noch eine Fahrt zu machen und währenddessen eine gewisse patentierte Medizin einzunehmen, an deren Wirksamkeit er selbst unerschütterlich glaubte. „Ich will Ihnen etwas sagen. Ich werde Ihnen zwei Flaschen davon schenken. So! Ein loyaleres Anerbieten könnte Ihnen doch kein Mensch machen, nicht wahr?“

Ich glaube wirklich, er hätte bei dem geringsten Zeichen von Nachgiebigkeit meinerseits seine abscheuliche (oder hochherzige) Absicht ausgeführt. Aber inzwischen hatten sich meine Unlust und mein Eigensinn noch gesteigert. Die letzten anderthalb Jahre so voll neuer und mannigfaltiger Erlebnisse schienen mir jetzt öde, trostlos – eine Zeitvergeudung. Ich hatte das Gefühl – wie soll ich mich ausdrücken? – als wäre ihnen keine Wirklichkeit abzugewinnen. Welche Wirklichkeit? Das zu erklären, wäre mir schwer geworden. Wenn man mich sehr gedrängt hätte, wäre ich wahrscheinlich einfach in Tränen ausgebrochen. Jung genug dazu war ich noch.

Am nächsten Tag erledigten der Kapitän und ich das Geschäftliche in dem Heuerbureau des Hafens. Es war ein großer, hoher, kühler, weißer Raum, wo das durch Jalousien gedämpfte Tageslicht sanft glühte. Alle – die Beamten, das Publikum – waren weiß gekleidet. Nur von den schweren polierten Pulten in dem Mittelgang gingen dunkle Lichtreflexe aus, und einige Papiere, die auf den Tischen lagen, waren blau. Riesige Ventilatoren sandten von oben einen leichten Luftzug durch den weißen Raum auf unsere schwitzenden Köpfe.

Der Beamte hinter dem Pult, auf das wir zugingen, setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und behielt es bei, bis mein Kapitän auf die formelle Frage: „Also abmustern und wieder anmustern?“ – „Nein, nur abmustern“, antwortete. Darauf verwandelte sich plötzlich das Lächeln in eine tiefernste Miene. Er sah mich nicht wieder an, bis er mir meine Papiere mit einem kummervollen Ausdruck überreichte, als wären sie meine Pässe für die Unterwelt.

Während ich sie in die Tasche steckte, richtete er eine leise gemurmelte Frage an den Kapitän, worauf dieser gutmütig erwiderte:

„Nein, er verlässt uns, um heimzufahren.“

„Ach so!“ rief der andere und schüttelte betrübt den Kopf über diesen traurigen Fall.

Ich kannte ihn zwar nicht persönlich, aber er lehnte sich über den Tisch, um mir mitleidig die Hand zu schütteln, ungefähr so, wie man es mit einem armen Teufel machen würde, der sich zur Hinrichtung begibt. Ich fürchte, ich sah nicht sehr liebenswürdig dabei aus, im Gegenteil, eher hatte ich die verstockte Miene eines hartgesottenen Sünders.

Ein auf der Heimreise begriffener Dampfer wurde erst in drei oder vier Tagen erwartet. Da ich jetzt kein Schiff mehr hatte und meine Beziehungen zur See – vorläufig wenigstens – abgebrochen waren und ich infolgedessen ja ein bloßer zufälliger Passagier geworden war, – wäre es vielleicht richtiger gewesen, wenn ich in ein Hotel gegangen wäre. Da lag es auch, einen Steinwurf von dem Heuerbureau entfernt, ein niedriger Bau, aber doch von palastartigem Aussehen, mit seinen weißen, von Säulen getragenen Pavillons, umgeben von schmucken Rasenplätzen. Dort wäre ich mir wirklich wie ein bloßer Passagier vorgekommen! Ich warf dem Gebäude einen feindseligen Blick zu und wandte meine Schritte nach dem Seemannsheim.

Ich ging im Sonnenschein, ohne ihn zu beachten, und in dem Schatten der großen Bäume auf dem Glacis, ohne mich daran zu freuen. Durch das Laub senkte sich die tropische Hitze des Orients auf mich, hüllte meinen leicht gekleideten Körper ein, hing sich an meine aufsässige Unzufriedenheit, gleichsam um ihr Fesseln anzulegen.

Das Seemannsheim war ein großes, einstöckiges Haus mit einer breiten Veranda und einem sonderbar kleinstädtisch aussehenden Gärtchen davor, das mit einigen Bäumen und Sträuchern bepflanzt war. Dieses Heim hatte den Charakter eines Wohnklubs, doch hatte es einen etwas behördlichen Anstrich, weil es vom Hafenamt aus verwaltet wurde. Der Leiter wurde offiziell der „Obersteward“ genannt. Dieser war ein unglücklich aussehender, dürrer, kleiner Mann, dem nur der richtige Anzug fehlte, um einen Jockey, wie er leibt und lebt, abzugeben. Aber offenbar hatte er früher diese oder jene Beziehung zur See gehabt. Wahrscheinlich die umfassende Beziehung eines Fiaskos.

Ich hätte gedacht, dass seine jetzige Beschäftigung eine sehr leichte sein müsste, aber er behauptete immer, warum weiß ich nicht, dass seine Stellung eines Tages sein Tod sein würde. Es war mir ziemlich rätselhaft. Vielleicht war er von Natur aus jeder Tätigkeit abhold. Jedenfalls schien er es sehr ungern zu sehen, wenn Gäste in sein Haus kamen.

Als ich es betrat, dachte ich, er würde sich freuen. Alles war so still wie im Grab. In den Wohnräumen war niemand zu sehen, auf der Veranda auch nicht, mit Ausnahme eines Herrn, der am entferntesten Ende ausgestreckt in einem Liegestuhl schlief. Von dem Geräusch meiner Schritte gestört, öffnete er ein schrecklich verglastes Auge. Er war mir fremd. Ich zog mich zurück und ging durch das Esszimmer – einen sehr öde aussehenden Raum, von dessen Decke ein Ventilator regungslos über den Tisch herabhing – und klopfte an eine Tür, auf welcher in schwarzen Buchstaben stand: „Obersteward“.

Als auf mein Klopfen eine Stimme in ärgerlichem und trübselig klagendem Ton: „Ach Gott! Ach Gott! Was ist nun schon wieder?“ antwortete, trat ich sofort ein. Das Zimmer hatte ein für die Tropen eigenartiges Aussehen. Zwielicht und verbrauchte Luft herrschten darin. Der Kerl hatte vor den geschlossenen Fenstern ungeheuer weite verstaubte, billige Spitzengardinen hängen. Haufen von Kartons, wie sie die Putzmacherinnen und Schneiderinnen in Europa benutzen, standen in jeder Ecke, und er hatte sich – weiß Gott wie – solche Möbel verschafft, wie man sie in einer kleinbürgerlichen „guten Stube“ im Osten Londons findet – ein Rosshaarsofa und dazu passende Lehnstühle. Schmierige Spitzendeckchen lagen überall zerstreut auf diesen furchtbaren Möbeln, welche mich insofern mit Ehrfurcht erfüllten, als man unmöglich erraten konnte, welcher zufälligen Begebenheit, welcher Bedrängnis oder Laune sie ihr Vorhandensein hier verdankten. Der Mann hatte seine Joppe ausgezogen, und in weißen Hosen und einem dünnen kurzärmeligen Trikothemd ging er wie ein Löwe im Käfig mit langen Schritten, die Arme gekreuzt und die mageren Ellenbogen von den Händen umklammert, hinter den Stühlen umher.

Ein Ausruf der Bestürzung entschlüpfte ihm, als er hörte, dass ich mich einige Tage dort aufhalten wollte, er konnte jedoch nicht leugnen, dass an freien Zimmern kein Mangel sei.

„Gut. Können Sie mir dasselbe Zimmer geben wie voriges Mal?“

Er stöhnte nur kläglich hinter dem Haufen Kartons auf dem Tisch – was wohl der Kerl in ihnen aufbewahrte? – sie hätten Handschuhe, Taschentücher oder Krawatten enthalten können. Es roch nach vermodernden Korallen oder dem Staub orientalischer ausgestopfter Tiere in dieser Bude. Ich konnte nur seinen Schädel und seine unglücklichen Augen sehen, die hinter der Verschanzung auf mich gerichtet waren.

„Es ist nur für ein paar Tage“, sagte ich, um ihn zu trösten.

„Vielleicht möchten Sie im Voraus zahlen?“ schlug er rasch vor.

„Was fällt Ihnen ein?“ platzte ich heraus, sobald ich die Sprache zurück gewonnen hatte. „So etwas ist mir noch nicht vorgekommen! Das ist doch die unerhörteste Frechheit ...“

Er hatte seinen Kopf in beide Hände genommen und sah so verzweifelt aus, dass ich meine Entrüstung zügelte.

„Ach Gott! Ach Gott! Schreien Sie mich nur nicht so an! Ich verlange es ja von allen.“

„Das glaube ich einfach nicht!“ sagte ich grob.

„Ich will es jedenfalls von jetzt ab tun. Wenn die Herren alle einwilligen würden, mir im Voraus zu zahlen, könnte ich Hamilton dazu bringen, auch zu zahlen. Ewig kommt er vollständig bankrott an Land, und selbst wenn er Geld hat, will er seine Rechnung nicht begleichen. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Er flucht nur und sagt, ich könnte doch einen Weißen hier nicht einfach auf die Straße werfen. Wenn Sie also nur...“

Ich war sprachlos – auch glaubte ich ihm nicht. Ich hatte den Kerl in Verdacht, dass er einfach bodenlos unverschämt war. Ich erklärte ihm aufs nachdrücklichste, dass er und Hamilton sich meinetwegen zum Teufel scheren könnten, ich ginge jedenfalls nicht auf seinen Vorschlag ein und verlangte, dass er endlich mit seinen Dummheiten aufhöre und mir mein Zimmer zeige. Darauf holte er einen Schlüssel von irgendwoher und verließ mit mir seine Bude. Beim Hinausgehen warf er mir einen giftigen Seitenblick zu.

„Wohnt augenblicklich jemand hier, den ich kenne?“ fragte ich ihn, ehe er mein Zimmer verließ.

Er hatte seinen gewöhnlichen gekränkten und zugleich verärgerten Ton wieder angenommen und sagte, dass Kapitän Giles, der von einer Sulusee-Fahrt zurückgekehrt sei, sich hier aufhielte, außerdem noch zwei andere Gäste. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Und Hamilton auch, natürlich.“

„Ach ja, Hamilton“, sagte ich, und der jämmerliche Kerl entfernte sich, nachdem er zum Schluss noch einmal zum Gotterbarmen gestöhnt hatte.

Ich hatte mich noch immer nicht über seine Frechheit beruhigt, als ich um die Mittagszeit ins Esszimmer trat. Er war dort und beaufsichtigte das chinesische Dienstpersonal. Das eine Ende des langen Tisches war für das Mittagessen gedeckt, und der Ventilator bewegte träge die heiße Luft – hauptsächlich über einer kahlen Einöde von poliertem Holz.

Wir waren vier am Tisch, der schlummernde Herr von dem Liegestuhl war dabei. Er hatte jetzt beide Augen geöffnet, aber er saß zurückgelehnt und schien nichts zu sehen. Sein würdevoll aussehender Nachbar mit dem kurz geschnittenen Backenbart und dem sorgfältig rasierten Kinn war natürlich Hamilton. In dem Stand, den es der Vorsehung gefallen hatte, für ihn zu bestimmen, hatte ich noch nie einen so selbstbewussten Menschen gesehen. Es war mir zu Ohren gekommen, dass er mich als einen regelrechten Außenseiter betrachtete. Er erhob nicht nur die Augen, sondern auch die Augenbrauen bei dem Geräusch, das ich machte, als ich meinen Stuhl zurückschob.

Kapitän Giles saß am Kopfende des Tisches. Ich tauschte einige Worte der Begrüßung mit ihm aus und setzte mich an seine linke Seite. Blass und beleibt, mit hoher Stirn, großer, glänzender Glatze und vorstehenden braunen Augen, hätte er alles andere als ein Seemann sein können. Er sah eher wie ein Architekt aus. Mir kam er vor (ich weiß, wie lächerlich es klingt) wie ein Kirchendiener. Er machte den Eindruck eines Mannes, von dem man gute Ratschläge erwarten könne, moralische Aussprüche mit Gemeinplätzen untermischt, die er nicht in der Absicht zu blenden, sondern aus ehrlicher Überzeugung vorbrachte.

Obgleich er in Schifferkreisen sehr bekannt und geschätzt war, hatte er keine feste Anstellung. Er wollte es auch nicht, denn er hatte eine eigene, besondere Stellung. Er war Sachverständiger – Sachverständiger für – wie soll ich mich ausdrücken – für schwierigere Navigationsfragen. Er hatte den Ruf, in den abgelegensten Teilen des Archipels, für die es noch keine Seekarten gab, besser Bescheid zu wissen als jeder andere Mensch auf der Welt. Sein Kopf musste ein wahres Lagerhaus von Sandbänken, Schiffswegen, Peilungen, von Landzungen, unbekannten Küsten, von unzähligen Inseln, Einöden und dergleichen gewesen sein. Jedes Schiff zum Beispiel, dass nach Palawan oder einem in dieser Richtung gelegenen Ort bestimmt war, wollte Kapitän Giles an Bord haben, entweder als interimistischen Führer oder „um dem Schiffer in der Navigation beizustehen“. Es hieß allgemein, dass eine große chinesische Reederei sich seine Dienste für solche Fälle gesichert hatte, indem sie ihm ein festes Gehalt bezahlte. Außerdem war er immer bereit, jeden abzulösen, der einen längeren „Landgang“ zu machen wünschte. Kein Reeder hatte jemals gegen ein solches Abkommen Einspruch erhoben, denn es war eine feststehende Tatsache, dass Kapitän Giles so gut, wenn nicht sogar etwas besser war als der beste Schiffsführer. Aber in Hamiltons Augen war er auch ein „Außenseiter“. Ich glaube, dass für Hamilton die Verallgemeinerung „Außenseiter“ uns allen galt. Trotzdem nehme ich an, dass er in Gedanken einige Unterschiede machte.

Da ich Kapitän Giles höchstens zweimal in meinem Leben gesehen hatte, versuchte ich es gar nicht, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen. Aber er wusste natürlich, wer ich war. Nach einer Weile beugte er den glänzenden Kopf zu mir herüber und richtete ein paar Worte in seiner freundlichen Art an mich. Er nehme an, sagte er, dass ich auf ein paar Tage Urlaub an Land gekommen sei.

Er sprach immer sehr leise. Ich antwortete ihm etwas lauter: Nein, ich hätte abgemustert.

„Um eine Weile ein freier Mann zu sein“, bemerkte er.

„Ja, so kann ich mich wohl seit elf Uhr nennen“, erwiderte ich.

Hamilton hatte aufgehört zu essen, als er unsere Stimmen vernahm. Er legte Messer und Gabel leise hin, stand auf und murmelte etwas von der „verdammten Hitze, die einem den Appetit nimmt“, und verließ das Zimmer. Gleich nachher hörten wir, wie er aus dem Hause ging, die Verandastufen hinunter.

Darauf bemerkte Kapitän Giles nachlässig, dass der Kerl ohne Zweifel gegangen sei, um zu sehen, ob er meinen Posten bekommen könne. Der Obersteward, der gegen die Wand gelehnt gestanden hatte, näherte sich jetzt mit seinem unglücklichen Ziegengesicht dem Tisch und sprach uns mit kläglicher Stimme an. Er wollte sein Herz über Hamilton ausschütten. Er habe seinetwegen immer Unannehmlichkeiten mit dem Hafenamt, weil seine Abrechnungen nie stimmten. Er wünschte von Herzen, dass Hamilton meine Stellung bekäme – aber was würde es ihm schließlich nützen? Höchstens vorübergehend.

Ich sagte: „Sie können sich beruhigen. Meine Stelle bekommt er nicht. Mein Nachfolger ist bereits an Bord.“

Die Nachricht überraschte ihn, und er schien etwas enttäuscht. Kapitän Giles lachte leise. Wir standen auf und gingen auf die Veranda hinaus, den apathischen Fremden überließen wir der Fürsorge der Chinesen. Ich sah noch, wie sie einen Teller mit einer Scheibe Ananas vor ihn hinstellten und dann ein paar Schritte zurücktraten, um zu sehen, was geschehen würde, aber das Experiment schien zu misslingen. Er rührte sich nicht.

Mit leiser Stimme erzählte mir Kapitän Giles, dass der Fremde ein Offizier von der Yacht eines Rajahs sei. Diese war in den Hafen eingelaufen, um ins Trockendock gebracht zu werden. „Der muss die vergangene Nacht gehörig gebummelt haben“, fügte er hinzu und zog die Nase in kleine Fältchen, was einen vertraulichen, freundschaftlichen Eindruck machte und mir sehr schmeichelte, denn Kapitän Giles war mit einem Nimbus umgeben. Man munkelte von ungewöhnlichen Abenteuern und irgendeiner geheimnisvollen Tragödie in seinem Leben. Außerdem wusste keiner irgendetwas Nachteiliges über ihn zu sagen. Er fuhr fort:

„Ich erinnere mich, wie er vor einigen Jahren das erste Mal hier an Land kam. Es kommt mir wie gestern vor. Er war ein netter Junge. Ach, diese netten Jungen!“

Ich konnte nicht umhin, laut aufzulachen. Zuerst sah er erschrocken aus, aber dann stimmte er mit ein.

„Nein! Nein! Das meinte ich nicht!“ rief er. „Was ich sagen wollte, ist, dass viele von ihnen hier doch mächtig schnell anfaulen.“

Lachend meinte ich, dass die scheußliche Hitze wohl hauptsächlich daran schuld sei. Aber es stellte sich heraus, dass Kapitän Giles gründlicher darüber nachgedacht hatte. Hier draußen im Orient wurde es den Weißen so leicht gemacht. Nun gut. Die Schwierigkeit bestände darin, ein Weißer zu bleiben, und mancher dieser netten Jungen verstände das eben nicht. Er warf mir einen prüfenden Blick zu, und in einem wohlwollenden, onkelhaften Ton fragte er ohne Umschweife:

„Warum gaben Sie Ihre Heuer auf?“

Ich wurde plötzlich wütend, denn man kann sich denken, wie eine solche Frage einen Mann ärgern kann, wenn er die Antwort selber nicht weiß. Ich sagte mir, ich müsste eigentlich diesem Moralprediger über den Mund fahren; laut fragte ich ihn mit gesuchter Höflichkeit:

„Wieso ...? Haben Sie etwas dagegen?“

Er war so verblüfft, dass er nur verwirrt murmeln konnte: „Ich! ... Nein, ich meinte nur so im Allgemeinen...“ und dann schien er mich aufzugeben. Aber er trat in guter Ordnung den Rückzug an, gedeckt von der Bemerkung – die spaßhaft sein sollte –, dass er auch schon auf dem Wege sei, anzufaulen – denn um diese Zeit pflege er – wenn er an Land sei – ein Mittagsschläfchen zu halten. „Sehr schlechte Gewohnheit. Sehr schlechte Gewohnheit.“

Die Treuherzigkeit dieses Mannes hätte die Empfindlichkeit eines noch jüngeren Menschen als mich besänftigt. Darum, als er am folgenden Tag beim Mittagessen sich zu mir herüber lehnte mit den Worten, er habe gestern Abend meinen früheren Kapitän getroffen, und flüsternd hinzufügte: „Es tut ihm sehr leid, dass Sie von ihm abgegangen sind; er hat noch nie einen ersten Steuermann gehabt, der ihm so zusagte“, erwiderte ich ihm aufrichtig und ohne jede Pose, dass ich mich während meiner ganzen bisherigen Seefahrtszeit auf keinem Schiff so wohl gefühlt habe und mir kein Kapitän so sympathisch gewesen sei.

„Nun also“, murmelte er.

„Haben Sie nicht gehört, Kapitän Giles, dass ich beabsichtige, nach der Heimat zu fahren?“

„Ja, ja“, meinte er wohlwollend. „Diese Redensarten habe ich schon öfter gehört.“

„Was heißt das?“ rief ich. Bei mir dachte ich, das ist doch der langweiligste, nüchternste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Ich weiß nicht, was ich ihm noch gesagt hätte, wenn Hamilton nicht mit großer Verspätung in diesem Augenblick ins Zimmer getreten wäre. Als er seinen gewöhnlichen Platz eingenommen hatte, murmelte ich undeutlich vor mich hin:

„Na, jedenfalls werden Sie sehen, dass es diesmal keine ‚Redensart’ ist.“

Hamilton, tadellos rasiert, grüßte Kapitän Giles mit einem kurzen Nicken, aber mich geruhte er nicht einmal mit einem Blick zu beachten, und als er sprach, geschah es nur, um dem Obersteward zu sagen, dass das Essen, das man ihm vorsetzte, eines Gentlemans unwürdig sei. Der Angeredete schien nicht einmal mehr stöhnen zu können, so unglücklich war er. Er konnte nur die Augen wortlos zu dem Ventilator erheben.

Kapitän Giles und ich standen von Tisch auf; der Fremde neben Hamilton folgte unserem Beispiel; nur mit Mühe brachte er es fertig, sich auf die Füße zu stellen. Der arme Kerl hatte versucht – nicht weil er hungrig war, sondern nur, wie ich wirklich glaube, um seine Selbstachtung wieder zu erlangen –, etwas von dem „unwürdigen“ Essen zwischen die Zähne zu bringen, aber nachdem er die Gabel zweimal hatte fallen lassen, gab er die Sache auf und saß mit tief gekränkter Miene und unheimlich verglasten Augen da. Giles und ich hatten es beide vermieden, ihn während der Mahlzeit anzusehen.

Auf der Veranda blieb der Fremde plötzlich stehen, um in einem besorgten Ton eine lange Bemerkung an uns zu richten, von der ich nicht ein Wort verstand. Es klang wie irgendeine furchtbare, unbekannte Sprache. Aber als Kapitän Giles, nachdem er nur einen Moment nachgedacht hatte, ihm mit natürlicher Herzlichkeit erwiderte: „Ja, ja, gewiss, da haben Sie vollkommen recht“, schien er sehr befriedigt zu sein und ging (sogar ziemlich gerade) davon, um einen entfernten Liegestuhl aufzusuchen.

„Was hat er eigentlich sagen wollen?“ fragte ich angewidert.

„Ich weiß nicht. Man darf gegen den armen Kerl nicht zu hart sein. Sie können sich darauf verlassen, dass er sich hundeelend fühlt, und morgen wird es noch schlimmer sein.“

Nach dem Aussehen des Mannes zu urteilen, schien mir eine Steigerung ein Ding der Unmöglichkeit. Ich fragte mich, welche merkwürdige Orgie ihn wohl in einen solchen unbeschreiblichen Zustand gebracht hatte. Im Gegensatz zu seinen wohlwollenden Worten missfiel mir der eigentümlich selbstzufriedene Ausdruck auf Kapitän Giles’ Gesicht und beeinträchtigte ihre Wirkung. Ich sagte mit kurzem Lachen:

„Na, Sie sind ja da, um sich seiner anzunehmen.“

Er machte eine abweisende Geste und setzte sich mit einer Zeitung hin. Ich nahm auch eine. Die Zeitungen waren alt und uninteressant; fast alle enthielten spaltenlange öde Beschreibungen der Feierlichkeiten bei dem Regierungsjubiläum der Königin Viktoria. Wahrscheinlich wären wir bald bei der tropischen Hitze eingenickt, wenn Hamiltons erhobene Stimme, die aus dem Esszimmer drang, uns nicht gestört hätte. Er beendete dort sein Mittagessen. Die großen Doppeltüren standen zwar immer weit auf, aber er ahnte wohl nicht, wie nahe unsere Stühle an der Tür standen. Man konnte hören, wie er in lautem, hochmütigem Ton dem Steward, der irgendeine Äußerung gewagt hatte, erwiderte:

„Ich lasse mich nicht zu etwas treiben. Dort wird man heilfroh sein, einen Gentleman zu bekommen. Ich habe es nicht so eilig.“

Ein lautes Flüstern des Stewards folgte, und man konnte hören, wie Hamilton noch verächtlicher als vorher antwortete:

„Was? Der Grünschnabel, der sich etwas darauf einbildet, so lange Erster Offizier bei Kent gewesen zu sein ...? Unerhört!“

Giles und ich sahen einander an. Da mein früherer Kapitän Kent hieß, schien mir die geflüsterte Bemerkung von Kapitän Giles: „Er spricht von Ihnen“, eine überflüssige Atemverschwendung. Der Obersteward muss noch eindringlicher geworden sein, denn man hörte, wie Hamilton wieder in einem wenn möglich noch hochmütigeren Ton sehr energisch antwortete:

„Unsinn, guter Freund! Man konkurriert doch nicht mit einem solchen Außenseiter! Die Sache hat reichlich Zeit.“

Dann hörte man Schieben von Stühlen, Schritte im Nebenzimmer und klagende Vorhaltungen des Stewards, der Hamilton nachlief, sogar durch das Hauptportal bis in den Vorgarten hinaus.

„Ein sehr unangenehmer Mann ist das“, bemerkte Kapitän Giles – unnötigerweise, wie mir schien. „Sehr unangenehm. Sie haben ihn doch nicht irgendwie beleidigt, wie?“

„In meinem ganzen Leben habe ich nicht ein Wort mit ihm gesprochen“, erwiderte ich verdrießlich. „Ich habe keine Ahnung, was er mit ‚konkurrieren’ meint. Er hat versucht, meinen früheren Posten zu bekommen – ohne Erfolg. Aber das kann man eigentlich nicht konkurrieren nennen.“

Kapitän Giles schüttelte den großen, wohlwollenden Kopf langsam und nachdenklich. „Ohne Erfolg“, wiederholte er sehr bedächtig. „Ja, das glaube ich, bei Kent. Kent tut es unendlich leid, dass Sie fort sind. Er sagt auch, dass Sie ein sehr guter Seemann seien.“

Ich warf die Zeitung fort, die ich noch in der Hand hielt. Dann richtete ich mich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er solle mir nun endlich sagen, warum er immer und immer wieder auf dasselbe Thema zurückkäme, wo es doch einzig und allein mich anginge. Einfach zum Davonlaufen sei es, wirklich!

Durch die unerschütterliche Ruhe seines Blickes brachte mich Kapitän Giles zum Schweigen. „Nichts für ungut“, murmelte er beschwichtigend mit dem augenscheinlichen Wunsch, den kindischen Ärger, den er erregt hatte, zu besänftigen. Er machte wirklich einen so treuherzigen Eindruck, dass ich versuchte, mein Benehmen, so gut es ging, zu erklären. Ich sagte ihm, ich wollte nichts mehr davon hören, da es nun vorbei sei. Es wäre alles sehr schön gewesen, aber jetzt, nachdem es aus sei, zöge ich es vor, nicht mehr daran zu denken, geschweige denn davon zu sprechen. Ich hätte mich doch entschlossen, nach Hause zu fahren.

Er hörte die ganze Tirade mit jener eigentümlich aufmerksamen Miene eines Ratgebers an, als ob er versuchte, einen falschen Ton herauszuhören. Dann richtete er sich auf und schien angestrengt über die Angelegenheit nachzudenken.

„Ja. Sie sagten mir, dass Sie beabsichtigen, nach Hause zu fahren. Haben Sie dort etwas in Aussicht?“

Anstatt ihm zu sagen, dass ihn das nichts anginge, erwiderte ich verdrießlich:

„Nicht dass ich wüsste.“

Ich hatte in der Tat das ziemlich Aussichtslose der Lage erwogen, die ich mir selbst geschaffen, weil ich plötzlich meinem sehr angenehmen Posten den Rücken gekehrt hatte. Und ich war nicht sehr erfreut darüber. Es schwebte mir auf der Zunge zu sagen, dass die Vernunft nichts mit meinem Entschluss zu tun gehabt hätte, und dass er darum nicht das Interesse verdiene, das Kapitän Giles ihm scheinbar entgegenbringe. Aber er zog jetzt an seiner kurzen Holzpfeife und sah so arglos aus und allen Vernunftgründen unzugänglich, dass es kaum der Mühe wert schien, ihn zu plagen, weder mit der Wahrheit, noch mit Ironie.

Er blies eine Wolke Rauch in die Luft, dann überraschte er mich mit der brüsken Frage: „Ihre Heimreise schon bezahlt?“

Überwältigt von der Beharrlichkeit dieses Mannes, dem gegenüber man nicht gut unhöflich werden konnte, erwiderte ich mit übertriebener Sanftmut, dass ich es noch nicht getan hätte, aber morgen, dächte ich, wäre auch noch Zeit dazu.

Gerade wollte ich mich entfernen, um meine Privatangelegenheiten seinen einfältigen, zwecklosen Nachforschungen zu entziehen, als er die Pfeife mit einer bedeutungsvollen Geste hinlegte, wie wenn ein entscheidender Augenblick gekommen sei, und sich seitwärts über den Tisch zwischen uns hinüberbeugte.

„So? Sie haben es also noch nicht getan!“ Er senkte die Stimme geheimnisvoll. „Nun, dann halte ich es für richtig, Ihnen zu sagen, dass hier etwas vorgeht.“

In meinem ganzen Leben hatte ich mich niemals so von den Dingen dieser Erde losgelöst gefühlt wie damals. Vorübergehend von der See befreit, bewahrte ich doch das Bewusstsein des Seemanns, dass alles, was an Land geschieht, ihn nicht das Geringste angeht. Was konnte es mich interessieren? Kapitän Giles’ Erregung sah ich eher mit mitleidigen als mit neugierigen Augen an.

Auf seine einleitende Frage, ob der Steward heute mit mir gesprochen habe, antwortete ich, dass dies nicht der Fall sei. Im Übrigen, fügte ich hinzu, würde ich ihn nicht sehr ermuntert haben, wenn er versucht hätte, mich anzureden. Meinetwegen brauchte der Kerl überhaupt nicht mit mir zu sprechen!

Kapitän Giles ließ sich nicht durch meine Verdrießlichkeit einschüchtern, sondern begann mir mit hochwichtiger Miene eine lange Geschichte von einem Boten des Heuerbureaus zu erzählen, die ganz ohne Pointe war. Man hatte vormittags einen Eingeborenen – einen Boten – mit einem Brief in der Hand auf der Veranda gesehen. Der Brief war in einem amtlichen Umschlag gewesen. Wie es diese Kerle immer machen, hatte er ihn dem ersten weißen Mann, dem er begegnet war, gezeigt. Jener Weiße war unser Freund im Liegestuhl gewesen. Wie ich wusste, erlaubte ihm sein Zustand nicht, sich für irgendwelche irdische Angelegenheiten zu interessieren. Er konnte nur dem Boten abwinken. Dieser wanderte dann die Veranda hinunter und stieß auf Kapitän Giles, der durch einen merkwürdigen Zufall sich gerade dort befand ...

Jetzt hielt er mit einem viel sagenden Blick inne. Der Brief, fuhr er fort, war an den Obersteward adressiert. Was konnte nun Kapitän Ellis, der Hafenmeister, an den Steward zu schreiben haben? Der Kerl ging ja doch jeden Morgen nach dem Hafenamt, um Bericht zu erstatten und sich Anordnungen oder dergleichen zu holen. Er war kaum eine Stunde wieder zu Hause gewesen, als ein Bote mit einem Brief ihm nachjagte. Was sollte das nun bedeuten?

Und jetzt begann er Vermutungen anzustellen. Es konnte nicht wegen dieser oder jener Angelegenheit gewesen sein ... Und was die andere Sache beträfe, das wäre undenkbar.

Die Sinnlosigkeit dieser ganzen Unterhaltung verblüffte mich derartig, dass ich ihn nur anstarren konnte. Wenn der Mann mir nicht, ich weiß nicht warum, sympathisch gewesen wäre, hätte ich sein Benehmen als eine Beleidigung aufgefasst und es ihm sehr übelgenommen. Aber so tat er mir höchstens leid. Nur sein todernster Blick hielt mich davor zurück, ihm ins Gesicht zu lachen. Ich brachte es auch nicht fertig, ihn anzugähnen. Ich starrte ihn einfach an.

Sein Ton wurde eine Spur geheimnisvoller. Sowie der Kerl (den Steward meinte er) den Brief in die Finger bekommen hatte, stürzte er nach seinem Hut und raste aus dem Hause. Aber nicht etwa, weil er in dem Brief nach dem Heuerbureau berufen worden war. Nein, dahin ging er nicht. Dafür war er nicht lange genug fort. Im Handumdrehen war er wieder da, warf den Hut fort und raste im Esszimmer umher, während er fortwährend stöhnte und sich auf die Stirn schlug. Alle diese aufregenden Handlungen und Gebärden hatte Kapitän Giles beobachtet. Offenbar hatte er seitdem nicht aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ich begann tiefes Mitleid mit ihm zu empfinden. In einem Ton, in den ich mich bemühte, so wenig Ironie wie möglich zu legen, sagte ich, es freue mich, dass er etwas gefunden habe, womit er seine Morgenstunden hatte ausfüllen können.

Mit seiner entwaffnenden Treuherzigkeit machte er mich darauf aufmerksam, wie sonderbar es wäre, dass er überhaupt zu Hause gewesen sei, da er meistens die Zeit vor Tisch dazu gebrauche, verschiedene Kontore aufzusuchen, nach seinen Freunden am Hafen zu sehen und so weiter. Er hatte sich aber beim Aufstehen nicht sehr wohl gefühlt. Nichts von Bedeutung. Nur so, dass er zu faul war, auszugehen.

Dies alles erzählte er mit einem so starren, bannenden Ausdruck, dass ich bei der Sinnlosigkeit der ganzen Unterhaltung den Eindruck gewann, ich habe es mit einem harmlosen, langweiligen Idioten zutun. Und als er seinen Stuhl ein wenig näher rückte und anfing, noch leiser und geheimnisvoller zu sprechen, ging mir wie ein Blitzstrahl die Erkenntnis durch den Kopf, dass eine hohe berufliche Stellung nicht notwendig die Garantie für einen gesunden Verstand sei.

Es kam mir im Moment nicht in den Sinn, dass ich eigentlich nicht wusste, woran man einen gesunden Verstand erkennen kann und welch heikle und im Grunde genommen nebensächliche Angelegenheit er sei. Mit dem unklaren Wunsch, seine Gefühle nicht zu verletzen, nickte ich ihm mit interessierter Miene zu. Aber als er mich geheimnisvoll fragte, ob ich mich an die Unterhaltung erinnere, die eben zwischen unserem Steward und „jenem Menschen Hamilton“ stattgefunden hatte, stimmte ich ihm nur brummig bei und wandte den Kopf ab.

„Ja, aber erinnern Sie sich wirklich jedes Wortes?“ beharrte er höflich.

„Ich weiß nicht. Es geht mich jedenfalls nichts an“, platzte ich heraus und äußerte ferner den Wunsch, der Steward und Hamilton mögen sich zum Teufel scheren.

Ich wollte damit ein energisches, abschließendes Wort sagen, aber Kapitän Giles sah mich nur weiter nachdenklich an. Nichts konnte ihn zum Schweigen bringen. Er fuhr mit seiner Erzählung fort und machte mich darauf aufmerksam, dass meine Person eine Rolle in jener Unterhaltung gespielt habe. Als ich versuchte, meine gleichgültige Miene beizubehalten, wurde er direkt brutal. Ob ich gehört hätte, was der Mann gesagt hatte? Ja? Was ich also davon dächte? – Er möchte es wissen.

Da Kapitän Giles nicht den Eindruck machte, als ob er heimtückisch sein könnte, kam ich zu dem Schluss, dass ich den taktlosesten Idioten vor mir habe, dem ich jemals begegnet war. Fast verachtete ich mich wegen meiner Schwäche, überhaupt versucht zu haben, etwas Verstand in diesen dicken Schädel zu bringen. Ich erklärte jetzt dem Kapitän, dass ich gar nicht darüber nachgedacht hätte, weil es sich nicht lohnte, sich um Hamilton eine Minute den Kopf zu zerbrechen. Was solch ein Nichtstuer – „Ja, ja, das ist er“, warf Kapitän Giles ein – dachte oder sagte, könnte jedem anständigen Menschen vollkommen gleichgültig sein, und ich für mein Teil hätte nicht die Absicht, mich darum zu kümmern.

Dieser Standpunkt schien mir so einfach und selbstverständlich, dass ich aufrichtig erstaunt war, von Giles kein Zeichen der Zustimmung zu bekommen. Eine so vollendete Borniertheit war fast interessant.

„Was soll ich denn tun?“ fragte ich lachend. „Ich kann doch unmöglich wegen der Meinung, die er von mir hat, einen Streit mit ihm anfangen. Natürlich habe ich gehört, in welchem verächtlichen Ton er von mir sprach. Aber er wirft mir seine Verachtung nicht ins Gesicht. In meiner Gegenwart hat er sie nie zum Ausdruck gebracht. Denn vorhin wusste er ja nicht, dass ich ihn hören konnte. Ich würde mich also nur lächerlich machen.“

Dieser hoffnungslose Giles paffte nachdenklich weiter. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, und er sagte:

„Sie haben mich falsch verstanden.“

„So? Es freut mich außerordentlich, das zu hören“, bemerkte ich.

Mit wachsender Lebhaftigkeit erklärte er noch einmal, dass ich ihn missverstanden habe. Vollkommen missverstanden. Und in einem Ton, aus dem ein behagliches Selbstbewusstsein sprach, erzählte er mir, dass es nur wenige Dinge gäbe, die seiner Aufmerksamkeit entgingen, und dass es seine Gewohnheit sei, über sie nachzudenken, und meistens gelänge es ihm durch seine Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, den Dingen auf den Grund zu kommen.

Dieses Eigenlob passte natürlich vorzüglich zu der trostlosen Leere der übrigen Unterhaltung. Die ganze Angelegenheit verstärkte das unklare Gefühl in mir, dass das Leben nur eine aus Tagen bestehende Einöde sei – dieses Gefühl war es, das mich halb unbewusst aus einer behaglichen Heuer getrieben hatte, fort von Menschen, die mir sympathisch waren, um vor der drohenden Leere zu fliehen ... und alles nur, um wieder bei der ersten Wendung des Weges auf diesen Stumpfsinn zu stoßen. Hier war ein Mann von anerkanntem Wert und beglaubigten Leistungen, und nun war er im Grunde genommen nur ein lächerlicher und langweiliger Schwätzer. Und wahrscheinlich war es überall so – in der alten wie in der neuen Welt – auf der untersten wie auf der obersten Sprosse der sozialen Leiter.

Eine große Entmutigung bemächtigte sich meiner. Eine seelische Müdigkeit. Giles’ Stimme fuhr selbstzufrieden fort – wie die Stimme der hohlen Eingebildetheit der ganzen Menschheit klang sie mir. Aber ich ärgerte mich nicht mehr darüber. Man konnte eben nichts Ursprüngliches, nichts Neues, Anregendes, Aufrüttelndes von der Welt erwarten, keine Gelegenheit, etwas in sich zu entdecken, Weisheit zu gewinnen, Freuden zu genießen. Alles war dumm und wurde überschätzt, genau so wie Kapitän Giles dumm war und überschätzt wurde. Damit musste man sich abfinden.

Plötzlich schlug der Name Hamilton an mein Ohr und rüttelte mich aus meinen Gedanken auf.

„Ich dachte, wir wären mit ihm fertig“, sagte ich ärgerlich.

„Ja, aber in Anbetracht der Worte, die wir vorhin zufällig hörten, finde ich, dass Sie es tun müssten.“

„Tun?“ Ich richtete mich verwirrt auf. „Was soll ich tun?“

Kapitän Giles sah mich ganz erstaunt an.

„Nun, das natürlich, was ich Ihnen eben riet. Gehen Sie zum Steward, und fragen Sie ihn, was in dem Brief vom Heuerbureau stand. Fragen Sie ihn geradezu.“

Ich blieb eine Weile sprachlos. Hier war etwas so Unerwartetes und Neues, dass ich es gar nicht fassen konnte. Erstaunt murmelte ich:

„Aber ich dachte, es sei Hamilton, den Sie…“

„Ganz recht. Lassen Sie es sich nicht gefallen. Tun Sie, was ich Ihnen sage. Nehmen Sie sich den Steward vor. Ich wette, Sie werden ihm gehörig den Kopf waschen“, fuhr Kapitän Giles beharrlich fort und schwenkte seine glimmende Pfeife, um seinen Worten Nachdruck zu geben. Dann tat er drei kräftige Züge.

Der Ausdruck triumphierender Schlauheit auf seinem Gesicht war unbeschreiblich. Und doch hatte er bei allem etwas eigentümlich Sympathisches. Ein mildes Wohlwollen ging von ihm aus, lächerlich und eindrucksvoll zugleich. Es irritierte auch. In kühlem Ton, wie einer, der aus einem Menschen nicht klug wird, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass ich nicht einsähe, weshalb ich mich den Grobheiten dieses Kerls aussetzen sollte. Er war ein ganz unfähiger Steward und ein elender Schuft obendrein. Ebenso gut könnte ich ihn an der Nase zupfen.

„Ihn an der Nase zupfen!“ rief Kapitän Giles entsetzt. „Das würde Ihnen viel nützen!“

Die Bemerkung war so überflüssig, dass man nichts darauf antworten konnte. Aber das Gefühl, wie lächerlich diese ganze Unterhaltung war, begann schließlich seine übliche, unwiderstehliche Wirkung auf mich auszuüben, und ich wusste, ich dürfte diesem Manne nicht weiter zuhören. Ich stand auf und bemerkte kurz, dass dies mir über den Horizont ging, und ich nicht aus ihm klug werden konnte.

Bevor ich Zeit hatte, mich zu entfernen, sprach er wieder eigensinnig und zog nervös an seiner Pfeife.

„Nun – er ist – jedenfalls ein gemeiner Kerl. Fragen Sie ihn nur. Weiter nichts.“

Sein verändertes Wesen machte Eindruck auf mich – oder brachte mich wenigstens dazu, einen Augen blick stehen zu bleiben. Aber die Vernunft gewann sofort wieder die Oberhand, und ich verließ die Veranda, nachdem ich ihm beim Hinausgehen lustlos zugelächelt hatte. Nach einigen Schritten befand ich mich im Esszimmer, das jetzt aufgeräumt und leer war. Aber während dieser kurzen Zeit waren mir verschiedene Gedanken durch den Kopf gegangen, wie zum Beispiel: dass Giles sich über mich lustig gemacht habe, um auf meine Kosten einen Spaß zu haben, dass ich vielleicht albern und leichtgläubig aussähe, dass ich sehr wenig Lebenserfahrung besäße...

Plötzlich flog zu meinem Erstaunen die mir gerade gegenüber liegende Tür auf. Es war die mit der Aufschrift „Steward“, und der Mann selbst stürzte in seiner lächerlichen Art, die an ein gehetztes Wild erinnerte, aus seiner muffigen, spießbürgerlichen Bude heraus auf die Tür zu, die nach dem Garten führte.

Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, was mich dazu veranlasste, ihm nachzurufen: „Hören Sie mal! Warten Sie einen Augenblick!“ Vielleicht war es der Seitenblick, den er mir zuwarf, vielleicht war ich noch unter dem Einfluss des geheimnisvollen, ernsten Wesens von Kapitän Giles. Es war jedenfalls irgendeine Eingebung, eine Auswirkung jener Macht, die unser Dasein beherrscht und es nach dieser oder jener Richtung lenkt. Denn wenn diese Worte mir nicht entschlüpft wären – eine Willensäußerung waren sie entschieden nicht –, wäre meine Existenz, obwohl sicher noch die eines Seemannes, doch in eine Bahn gelenkt worden, von der ich mir jetzt unmöglich eine Vorstellung machen könnte.

Nein. Es war keine Willensäußerung. Im Gegenteil, kaum hatte ich jene verhängnisvollen Worte ausgesprochen, als ich sie tief bereute. Hätte der Mann kehrt gemacht und mir die Stirn geboten, wäre ich gezwungen gewesen, einen schmählichen Rückzug anzutreten, denn ich dachte nicht daran, den blöden Spaß des Kapitäns Giles durchzuführen, weder auf meine Kosten noch auf die des Stewards.

Aber hier machte sich der alte Jagdinstinkt des Menschen geltend. Der Steward stellte sich taub, und ich lief – ohne weiter zu überlegen – um meine Seite des Esstisches herum und versperrte ihm direkt vor dem Ausgang den Weg.

„Warum antworten Sie nicht, wenn ich Sie anrede?“ fragte ich barsch.

Er lehnte sich an den Türpfosten und sah furchtbar unglücklich aus. Ich fürchte, die menschliche Natur ist nicht bis auf den Grund anständig. Es gibt da hässliche Flecken. Ich merkte, wie ich böse wurde, und zwar nur, glaube ich, weil mein Opfer so jämmerlich aussah. Elender Waschlappen!

Ohne viele Umstände zu machen, fuhr ich ihn an. „Ich höre, es ist heute Morgen eine amtliche Mitteilung vom Heuerbureau hierher geschickt worden. Stimmt das?“

Anstatt mir zu sagen, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, wie er es hätte tun können, begann er in einem halb winselnden, halb frechen Ton zu erklären, dass er mich heute morgen nirgends habe auftreiben können. Man könne doch nicht von ihm verlangen, dass er mir durch die ganze Stadt nachlaufe.

„Wer verlangt es denn von Ihnen?“ rief ich. Und dann gingen mir die Augen auf über den tieferen Sinn mancher Dinge und Reden, deren Bedeutungslosigkeit mich so gelangweilt und geärgert hatte.

Ich sagte ihm, ich wollte wissen, was in dem Brief gestanden hätte. Die Strenge, die ich in meine Stimme und mein Benehmen legte, war mindestens zur Hälfte geheuchelt. Neugierde kann – zuweilen – sehr grimmig sein.

Er nahm seine Zuflucht zu einem albernen, mürrischen Gemurmel. Es ginge mich nichts an, brummte er. Ich habe ihm doch gesagt, dass ich nach Hause führe. Und da ich nach Hause führe, sähe er nicht ein, warum er ...

Das war ungefähr seine Entschuldigung, aber sie war so wenig stichhaltig, dass sie einer Beleidigung glich. Einer Beleidigung meiner Intelligenz, meine ich.

In jenem Zwielichtbereich zwischen Jugend und Reife, in dem ich mich damals befand, ist man besonders empfindlich für solche Beleidigungen. Ich fürchte, ich wurde jetzt sehr grob gegen den Steward. Aber er war nicht der Mann, einer Situation oder einem Menschen die Stirn zu bieten. Vielleicht lag es an den Betäubungsmitteln oder einsamen Trinkgelagen. Als ich mich soweit vergaß, dass ich ihn zu beschimpfen anfing, brach er ganz zusammen und begann zu heulen.

Ich will damit nicht sagen, dass er viel Lärm machte. Es war ein hündisches, winselndes Eingeständnis, das er leise, jämmerlich wimmernd, vorbrachte. Obwohl er nicht sehr zusammenhängend redete, verstand ich immerhin genug, um die Sprache zu verlieren. Als ich die Augen in gerechter Entrüstung von ihm abwandte, erblickte ich Kapitän Giles in der Tür der Veranda, der den Auftritt – sein Werk, wenn ich mich so ausdrücken darf – mit aller Ruhe betrachtete. In seiner großen, väterlichen Faust leuchtete wahrnehmbar seine schwarze, glimmende Pfeife, und auf seiner weißen Weste glitzerte seine schwere, goldene Uhrkette. Eine solche Atmosphäre weiser Erfahrung ging von ihm aus, dass jede unschuldige Seele sich dorthin geflüchtet hätte. Ich tat es auch.

„Sie werden es kaum glauben“, rief ich. „Es war eine Mitteilung, dass ein Führer für ein Schiff gesucht wird. Augenscheinlich wird ein Kommando ausgeboten, und dieser Kerl steckt das Ding in die Tasche!“

Der Steward stieß einen lauten Verzweiflungsschrei aus: „Sie werden noch mein Tod sein!“

Der mächtige Schlag, den er sich auf die jämmerliche Stirn gab, war ebenfalls sehr laut. Aber als ich mich umwandte, um ihn anzusehen, war er nicht mehr da. Er war fortgestürzt, irgendwohin, uns aus den Augen. Ich musste über sein plötzliches Verschwinden lachen.

Damit war der Vorfall – für mich wenigstens – erledigt. Kapitän Giles jedoch starrte noch auf den Platz, wo der Steward gestanden hatte, und begann an seiner prächtigen goldenen Uhrkette zu zerren, bis endlich aus den Tiefen seiner Tasche die Uhr hervorkam, wie die lautere Wahrheit aus einem Brunnen. Feierlich ließ er sie wieder herabgleiten und sagte dann nur:

„Genau drei Uhr. Sie werden gerade noch zur Zeit kommen – das heißt, wenn Sie keine verlieren.“

„Zur Zeit kommen? Wohin?“ fragte ich.

„Großer Gott! Nach dem Heuerbureau natürlich! Man muss unbedingt diese Angelegenheit ergründen. Die Sache muss untersucht werden."

Eigentlich hatte er recht. Aber für Nachforschungen, für das Entlarven von Leuten und dergleichen habe ich nie viel übrig gehabt, obgleich es sicher vom sittlichen Standpunkt eine verdienstvolle Tätigkeit ist. Und mein Standpunkt bei diesem Vorfall war ein rein sittlicher. Wenn einer von uns den Tod des Stewards auf dem Gewissen haben sollte, sah ich nicht ein, warum es nicht Kapitän Giles sein könnte, der ein älterer Mann von bewährtem Ruf und ein Ortsansässiger war. Während ich mir im Vergleich zu ihm wie ein Zugvogel in jenem Hafen vorkam. Ich war eigentlich schon wieder flugbereit. Ich murmelte, dass ich nicht glaubte – dass es mir gleichgültig sei ...

„Gleichgültig?!“ wiederholte Kapitän Giles mit ruhiger, bedächtiger Entrüstung. „Kent hat mich schon darauf aufmerksam gemacht, dass Sie ein sonderbarer junger Mann sind. Nächstens werden Sie mir sagen, dass Ihnen ein Kommando gleichgültig ist – und noch dazu nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe!“

„Mühe!“ murmelte ich verständnislos. Welche Mühe? Ich konnte mich nur an seine Unterhaltung erinnern, aus der ich nicht klug geworden war und mit der er mich nach dem Essen eine geschlagene Stunde tödlich gelangweilt hatte. Und das nannte er „sich große Mühe geben“!

Er sah mich noch immer mit einer Selbstzufriedenheit an, die bei jedem anderen Menschen ekelhaft gewirkt hätte. Plötzlich, als wäre die Seite eines Buches umgeschlagen und dadurch ein Wort sichtbar geworden, das alles Vorhergehende erklärt, merkte ich, dass diese Angelegenheit auch einen anderen als einen sittlichen Gesichtspunkt hatte.

Aber ich rührte mich noch immer nicht. Kapitän Giles wurde etwas ungeduldig. Zornig an seiner Pfeife saugend, wandte er mir und meiner Unschlüssigkeit den Rücken.

Aber es war keine Unschlüssigkeit von mir. Ich war, wenn ich mich so ausdrücken darf, seelisch aus dem Geleise gebracht. Aber sobald es mir klar geworden war, dass diese schale, öde mit meiner Unzufriedenheit erfüllte Welt etwas wie ein Kommando enthielt, das man nur zu packen brauchte, gewann ich mein Bewegungsvermögen wieder zurück.

Es ist ein ziemlicher Weg vom Seemannsheim bis zum Heuerbureau, aber mit dem Zauberwort „Kommando“ im Kopf befand ich mich plötzlich, als wäre ich im Handumdrehen dorthin befördert worden, auf dem Kai vor einem Portal aus weißem, geschliffenem Stein, zu welchem einige flache Stufen hinaufführten.

All dieses schien rasch auf mich zuzugleiten. Die ganze große, rechts von mir liegende Reede war ein einziger blau funkelnder Fleck, und erst als die dunkle, kühle Halle mich verschlang, fühlte ich, aus welcher Hitze und welchem grellen Licht ich gekommen war.

Die breite Innentreppe schien sich – ich weiß nicht wie – meinen Füßen anzuschmiegen. In dem Wort Kommando liegt ein mächtiger Zauber. Die ersten Menschen, die ich mit Bewusstsein sah, nachdem ich denn entrüsteten Rücken von Kapitän Giles hinter mir gelassen hatte, war die Mannschaft der Hafenbarkasse. Vor der gewölbten, mit einem Vorhang bedeckten Tür des Heuerkontors stand sie müßig auf dem breiten Treppenabsatz umher.

Dort verließ mich meine Schwungkraft. Die Atmosphäre der Kanzleien tötet ja alles, was von dem Odem menschlichen Strebens lebt. Hoffnung und Furcht werden von der Allgewalt der Tinte und des Papiers erstickt. Zögernd schritt ich unter dem Vorhang hindurch, den der malaiische Bootsführer der Dampfbarkasse beiseite schob. Es war niemand in dem Kontor außer den Angestellten, die zwei fleißig schreibende Reihen bildeten. Aber der Heuerbas sprang von seinem erhöhten Platz und eilte die dicken Läufer des Mittelganges hinunter auf mich zu.

Er hatte einen schottischen Namen, aber sein Gesicht war von tiefbräunlicher Farbe; sein kurzer Bart war kohlschwarz, und seine ebenfalls schwarzen Augen hatten einen schmachtenden Ausdruck. Er fragte vertraulich:

„Möchten Sie IHN sprechen?“

Da mich alle physische und seelische Schwungkraft bei der Berührung mit der Kanzleiluft verlassen hatte, sah ich den Angestellten bedrückt an und fragte ebenso matt:

„Was meinen Sie? Hat es einen Zweck?“

„Meine Güte! Er hat schon zweimal nach Ihnen gefragt.“

Dieser so nachdrücklich betonte ER war die höchste Gewalt, der Seeamtsinspektor, der Hafenmeister – eine sehr hohe Persönlichkeit in den Augen jedes einzelnen Federfuchsers in jenem Zimmer. Aber das war gar nichts im Vergleich zu der Meinung, die er selber von seiner Größe hatte.

Kapitän Ellis betrachtete sich als eine Art Vize-Neptun göttlichen (wenn auch heidnischen) Ursprungs der umliegenden Meere. Wenn er auch nicht direkt die Meere beherrschte, so glaubte er mindestens das Schicksal aller jener Sterblichen zu lenken, deren Los es war, auf den Wassern zu fahren.

Diese erhebende Illusion machte ihn rechthaberisch und herrschsüchtig. Und da er ein jähzorniges Temperament hatte, gab es Leute, die sich tatsächlich vor ihm fürchteten. Er wirkte beängstigend, nicht durch sein Amt, sondern durch seine unerhörte Anmaßung. Ich hatte noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt.

Ich sagte: „So? Er hat zweimal nach mir gefragt? Dann ist es wohl am besten, ich gehe gleich zu ihm hinein.“

„Sie müssen es! Sie müssen es!“

Mit tänzelnden Schritten führte mich der Heuerbas um den ganzen Apparat von Pulten zu einer hohen und wichtig aussehenden Tür, die er mit einer ehrerbietigen Armbewegung öffnete.

Er trat ein, aber ohne die Türklinke loszulassen, und nachdem er einen langen, ehrfurchtsvollen Blick in das Zimmer geworfen hatte, bedeutete er mir schweigend mit einem Kopfnicken einzutreten. Dann glitt er sofort hinaus und schloss die Tür auf das behutsamste hinter mir.

Drei hohe Fenster gingen nach dem Hafen, aber es war nichts weiter zu sehen, als das dunkelblaue, funkelnde Meer und das hellere, leuchtende Blau des Himmels. Ganz weit, in den fernen Tiefen dieser blauen Töne erblickte ich einen weißen Punkt – ein großes Segelschiff, das, eben eingekommen, im Begriff war, auf der Außenreede vor Anker zu gehen. Ein Heimatschiff nach vielleicht neunzigtägiger Fahrt. Der Anblick eines Schiffes, das von hoher See einläuft und die weißen Flügel zu einer Ruhepause zusammenlegt, hat etwas Rührendes.

Das nächste, was ich sah, war der Schopf silberweißen Haares, der das glatte, rote Gesicht von Kapitän Ellis krönte. Es hätte einen schlagflüssigen Eindruck gemacht, wenn es nicht so frisch ausgesehen hätte.

Unser Vize-Neptun hatte keinen Kinnbart, und es stand auch kein Dreizack in der Ecke, wie etwa ein Schirm. Aber in der Hand hielt er eine Feder – die Amtsfeder – die weit mehr Macht als das Schwert besitzt, das Wohl oder Wehe der sich plagenden Menschenkinder zu bestimmen. Er sah mich über die Schulter an, während ich auf ihn zuschritt.

Als ich gut in Schussweite war, begrüßte er mich mit einem Nerven zerrüttenden: „Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen?“

Da ihn das nichts anging, nahm ich nicht die geringste Notiz von diesem Schuss. Ich sagte einfach, dass ich gehört habe, ein Führer für ein Segelschiff würde benötigt, und da ich ein alter Segelschiffer sei, dachte ich, ich könnte mich bewerben ...

Er unterbrach mich. „Aber zum Kuckuck! Sie sind der einzig richtige Mann für den Posten – und wenn sich zwanzig andere darum bewerben sollten. Aber seien Sie unbesorgt! Sie haben alle viel zu große Angst um zuzugreifen. Das ist es eben!“

Er war sehr verärgert. Harmlos bemerkte ich: „So? Warum denn, möchte ich nur wissen!“

„Warum?“ fauchte er. „Angst vor den Segeln haben sie! Angst vor der weißen Mannschaft. Zu viel Mühe. Zu viel Arbeit! Zu lange hier draußen gewesen. Das Faulenzerleben auf Liegestühlen passt ihnen besser. Hier sitze ich mit der Kabeldepesche des Generalkonsuls vor mir, und der einzige Mann, der für den Posten in Frage kommt, ist nirgends aufzutreiben. Ich glaubte schon, dass Sie sich auch davor drücken wollten...“

„Ich habe nicht viel Zeit verloren“, bemerkte ich ruhig.

„Sie haben doch einen guten Ruf hier“, knurrte er wütend, ohne mich anzusehen.

„Es freut mich, das von Ihnen zu hören, Herr Inspektor“, sagte ich.

„Ja, aber Sie sind nicht da, wenn man Sie braucht. Das können Sie nicht leugnen. Ihr Steward hätte es nicht gewagt, eine Bestellung dieses Bureaus nicht auszurichten. Wo zum Teufel haben Sie den ganzen Tag gesteckt?“

Ich lächelte nur freundlich auf ihn herab, und er schien sich dann zu besinnen und bat mich, Platz zu nehmen. Darauf setzte er mir auseinander, dass der Führer eines britischen Schiffes in Bangkok gestorben sei und der Generalkonsul ihm gekabelt habe, er möge einen tüchtigen Menschen hinschicken, der die Führung übernehmen könne.

Scheinbar hatte er mich von Anfang an für den Posten im Sinn gehabt, obwohl der Form halber die Mitteilung ganz allgemein an das Seemannsheim erging. Ein Kontrakt war bereits aufgestellt worden, und als ich ihn mit der Bemerkung zurückgab, dass ich die darin enthaltenen Bedingungen annähme, unterschrieb ihn der Vize-Neptun, setzte seinen Stempel eigenhändig darauf, legte alsdann den Bogen blaues Foliopapier, auf dem der Vertrag geschrieben war, zusammen und überreichte ihn mir – eine Gabe, der eine ganz außergewöhnliche Wirkungskraft innewohnte, denn als ich sie in die Tasche steckte, wurde mir ganz schwindlig.

„Das ist also Ihre Ernennung zum Kapitän“, sagte er mit einer gewissen Feierlichkeit. „Eine offizielle Ernennung, deren Bedingungen sowohl für Sie wie auch für die Reeder bindend sind. Nun – wann können Sie zur Abfahrt bereit sein?“

Ich sagte, dass ich am selben Tag fertig sein könnte, wenn es nötig wäre. Er nahm mich bereitwilligst beim Wort. Der Dampfer „MELITTA“ sollte gegen sieben Uhr abends nach Bangkok fahren. Er würde offiziell den Kapitän dieses Dampfers bitten, mich mitzunehmen und bis zehn Uhr auf mich zu warten.

Dann erhob er sich von seinem Amtsstuhl, auch ich stand auf. Mir war ganz schwindlig – darüber war kein Zweifel – und in den Gliedern fühlte ich eine Schwere, als wären sie größer geworden, seitdem ich mich auf diesen Stuhl gesetzt hatte. Ich verbeugte mich zum Abschied.

Im Wesen des Kapitäns war eine kaum wahrnehmbare Veränderung bemerkbar, gleichsam als hätte er den Dreizack des Vize-Neptuns beiseite gelegt. In Wirklichkeit hatte er nur beim Aufstehen seine Amtsfeder fallen lassen.

II

Er schüttelte mir die Hand. „Nun also. Sie sind jetzt selbständig und auf meine Verantwortung amtlich zum Kapitän ernannt worden.“

Er begleitete mich wirklich bis an die Tür. Wie unendlich weit entfernt schien sie mir! Ich ging wie ein Schlafwandler. Aber schließlich erreichten wir sie, und ich öffnete sie mit der Empfindung, ein Traumerlebnis zu haben. Im letzten Augenblick behauptete sich die Kameradschaftlichkeit der Seeleute, die stärker ist als alle Alters- und Rangunterschiede. In der Stimme des Kapitäns Ellis war sie deutlich zu erkennen.

„Leben Sie wohl – und viel Glück!“ sagte er so herzlich, dass ich ihm nur mit einem dankbaren Blick antworten konnte. Dann wandte ich mich um und ging hinaus, um ihn nie wieder in meinem Leben zu sehen. Ich war noch keine drei Schritte gegangen, als ich eine raue, herrische Stimme hinter meinem Rücken hörte – die Stimme unseres Vize-Neptun.

Er redete den Heuerbas an, der, nachdem er mich hineingeführt, offenbar die Tür nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Herr R...! Sorgen Sie dafür, dass die Hafenbarkasse heut Abend um halb zehn Dampfauf hat, um den Herrn Kapitän hier an Bord der MELITTA zu bringen.“

Ich war erstaunt, wie erschrocken das „Jawohl, Herr Inspektor“ klang. Er lief mir voraus den Korridor entlang. Meine neue Würde war mir noch so fremd, dass ich nicht begriff, ich sei der Kapitän, dem diese letzte Liebenswürdigkeit galt. Mir war, als wären mir plötzlich ein paar Flügel auf den Schultern gewachsen. Ich schwebte förmlich über den polierten Fußboden.

Auf R... hatte es aber einen großen Eindruck gemacht.

„Na, so etwas!“ rief er auf dem Treppenabsatz, während die malaiische Mannschaft umherstand und den Mann mit kalten Blicken musterte, um dessentwillen sie so spät Dienst haben sollte, und der sie von ihrem Kartenspiel, von ihren Mädchen oder von ihren Familienfreuden fernhielt. „Na, so etwas! Seine eigne Dampfbarkasse! Was haben Sie nur mit ihm gemacht?“

Er starrte mich voller ehrerbietiger Neugierde an. Ich war ganz verblüfft.

„War ich gemeint? Ich hatte keine Ahnung!“ stammelte ich.

Er nickte mehrere Male. „Ja, und der letzte Mensch, den er darin fahren ließ, war ein Herzog! Was sagen Sie nun?“

Ich glaube, er erwartete von mir, dass ich auf der Stelle in Ohnmacht fiel. Aber für Gefühlsausbrüche hatte ich keine Zeit. Außerdem stürmten so viele Eindrücke auf mich ein, dass diese imponierende Mitteilung nichts mehr auszumachen schien. Sie fiel in den siedenden Kessel meines Gehirns, und ich trug sie mit mir fort nach einem kurzen, aber gefühlvollen Abschied von R...

Die Gunst der Großen umgibt den glücklichen Auserwählten stets mit einem Glorienschein. Dieser vortreffliche Mann fragte, ob er etwas für mich tun könne. Er kannte mich zwar nur vom Sehen, und er wusste, dass er mich nie wieder sehen würde. Für ihn mit seiner künstlichen Überlegenheit des Federfuchsers denen gegenüber, die mit der Wirklichkeit außerhalb der geheiligten Mauern der Amtsgebäude kämpfen, war ich, sowie alle anderen in diesem Hafen weilenden Seeleute ein bloßer Gegenstand amtlicher Schreibereien und auszufüllender Formulare. Wie Phantome mussten wir ihm vorkommen! Bloße Nummern, die nur dazu da waren, um in gewaltige Bücher und Register eingetragen zu werden, ohne Gehirn und Muskeln und Lebenssorgen, etwas, was kaum nützlich und entschieden minderwertig war.

Und er, er wollte – da die Bureauzeit um war – wissen, ob er etwas für mich tun könne!

Eigentlich hätte ich zu Tränen gerührt sein müssen. Aber der Gedanke kam mir nicht einmal. Es war eben nur ein Wunder mehr an jenem Tage der Wunder. Als wäre er eine bloße Nummer gewesen, trennte ich mich von ihm. Ich schwebte die Treppe hinunter, ich schwebte durch das amtliche und imposante Portal, ich schwebte die Straße entlang.

Ich gebrauche das Wort „schweben“ statt „fliegen“, denn ich erinnere mich genau, dass, obgleich ich mich durch die aufschäumende jugendliche Kraft in mir emporgehoben fühlte, meine Bewegungen trotzdem ganz gelassen waren. Den weißen, braunen und gelben Menschenkindern, denen ich draußen begegnete, muss ich den Eindruck eines Mannes gemacht haben, der ziemlich gesetzt dahin schreitet. Der Ausdruck „zerstreut“ hätte meinem Zustand völligen – gewissermaßen absoluten – Losgelöstseins von allen Formen und Farben dieser Erde nicht im Entferntesten genügt.

Und doch erkannte ich plötzlich Hamilton. Ganz mühelos und ohne zusammenzufahren oder zu erschrecken, erkannte ich ihn. In seiner ganzen steifen, arroganten Würde schlenderte er auf das Heuerbureau zu. Sein rotes Gesicht fiel schon von weitem auf. Es flammte förmlich drüben auf der Schattenseite der Straße.

Er hatte mich ebenfalls bemerkt. Etwas (unbewusster Übermut vielleicht) trieb mich dazu, ihm umständlich zuzuwinken. Diese Taktlosigkeit hatte ich begangen, ehe ich mir bewusst war, einer solchen überhaupt fähig zu sein.

Meine Frechheit frappierte ihn derartig, dass er, wie von einer Kugel getroffen, jäh zurückfuhr. Ich glaube, er taumelte sogar, obgleich er, soweit ich erkennen konnte, nicht direkt hinfiel. Im nächsten Moment war ich vorbei und wandte auch nicht den Kopf nach ihm. Ich hatte seine Existenz schon vergessen.

Die folgenden zehn Minuten hätten zehn Sekunden oder zehn Jahrhunderte sein können, so wenig war mir bewusst, was um mich vorging. Ringsumher hätten Menschen tot umfallen, Häuser zusammenstürzen, Kanonenschüsse abgefeuert werden können, ich hätte nichts davon bemerkt. Ich dachte nur: „Donnerwetter! Ich habe es bekommen!“ „Es“ war das Kommando. Es war auf eine Art und Weise gekommen, die in meinen bescheidenen Luftschlössern gänzlich unvorhergesehen war.

Daran merkte ich, dass sich meine Phantasie bisher in alltäglichen Geleisen bewegt hatte und dass meine Hoffnungen stets farblos gewesen waren. Ein Kommando hatte ich mir immer vorgestellt als das Resultat einer langen Kette von Beförderungen im Dienst eines sehr hoch angesehenen Reedereibesitzers, als die Belohnung für treue Dienste. Treue Dienste? Nun, das war selbstverständlich, die leistete man ja schon sich selbst zuliebe, dem Schiff zuliebe, aus Liebe zu dem Beruf, den man gewählt hatte, und nicht um der Belohnung willen.

Es liegt etwas Abstoßendes in dem Gedanken an Belohnung.

Und nun hatte ich meine Ernennung zum Kapitän tatsächlich in der Tasche – unbestreitbar, wenn auch höchst unerwartet, alle meine Träume übersteigend, über alle vernünftigen Erwartungen hinaus, und sogar trotz einer versteckten Intrige, sie mir vorzuenthalten. Es war allerdings eine sehr schwache Intrige gewesen, aber sie erhöhte das Gefühl eines Wunders, als ob eine höhere Macht als die prosaische Vermittlung der Kaufmannswelt mich für dieses Schiff, das ich noch nicht kannte, ausersehen hatte.

Ein seltsames Gefühl des Triumphes durchrieselte mich. Wenn ich zehn Jahre oder noch länger für diese Kapitänstelle gearbeitet hätte, wäre ich nicht so bewegt gewesen. Mir war ein wenig bange.

„Wir wollen ganz ruhig bleiben“, sagte ich zu mir.

Vor dem Eingang des Seemannsheims stand der erbärmliche Steward und schien auf mich zu warten. Es war eine breite, aus ein paar Stufen bestehende Treppe davor, auf der obersten lief er hin und her wie an der Kette. Ein jämmerlicher Hund. Er sah aus, als wäre ihm der Hals zu ausgetrocknet, um zu bellen.

Ich muss zugeben, dass ich stehen blieb, ehe ich hineinging. In meinem Charakter war eine Revolution vorgegangen. Der Steward wartete mit offenem Mund, atemlos, während ich ihn – eine halbe Minute mindestens – ansah.

„Sie dachten also, dass Sie es mir vorenthalten könnten“, bemerkte ich verächtlich.

„Sie sagten doch, Sie kehrten nach der Heimat zurück“, winselte er. „Sie sagten es doch. Sie sagten es doch.“

„Ich möchte nur wissen, wie sich Kapitän Ellis zu dieser Entschuldigung verhalten wird“, bemerkte ich langsam mit unheilvoller Bedeutung.

Sein Unterkiefer hatte die ganze Zeit gezittert, und seine Stimme klang wie das Meckern einer kranken Ziege.

„Haben Sie mich verraten? Haben Sie mich ruiniert?“

Weder sein Jammer noch die Lächerlichkeit seiner Vermutung vermochten mich zu entwaffnen. Es war das erste Mal, dass man versucht hatte, mir einen Schaden zuzufügen, wenigstens das erste Mal, dass ich dahinter gekommen war. Und ich war noch so jung, noch zu sehr diesseits der Schattenlinie, um nicht über solche Vorkommnisse erstaunt und entrüstet zu sein.

Unerbittlich ruhte mein Blick auf ihm. Der Schuft sollte nur ruhig Qualen aushalten. Er schlug sich an die Stirn, und ich ging ins Haus, bis in das Esszimmer von seiner schreienden Klage verfolgt: „Ich habe ja immer gesagt, dass Sie mein Tod sein würden!“

Das Geschrei hatte mich nicht nur eingeholt, sondern war mir gleichsam vorausgeeilt bis auf die Veranda, wo es Kapitän Giles veranlasste, zum Vorschein zu kommen.

In seiner ganzen nüchternen Gediegenheit und Erfahrung stand er in der Tür. Auf der Brust funkelte die goldene Kette, und mit der einen Hand hielt er die glimmende Pfeife umklammert.

Ich streckte ihm die Hand herzlich entgegen, worüber er ziemlich überrascht schien, jedoch schließlich erwiderte er den Händedruck mit hinreichender Wärme, aber mit einem leisen Lächeln der Überlegenheit des Erfahrenen, das meine Dankesworte wie mit einem Messer abschnitt. Ich glaube nicht, dass ich mehr als ein Wort hervorbrachte. Und selbst dieses eine ließ mich erröten – der Glut meiner Wangen nach zu urteilen – wie über eine schlechte Handlung. In einem Ton, dem ich einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben versuchte, fragte ich, wie er es in aller Welt fertig gebracht hätte, hinter dieses versteckte Spiel zu kommen.

Er murmelte gelassen, es käme nur selten vor, dass er nicht über alles, was in dieser Stadt vorging, Bescheid wüsste. Seit zehn Jahren habe er mit Unterbrechungen in diesem Hause gewohnt. Nichts, was darin geschah, konnte seinem erfahrenen Blick entgehen. Es habe ihm durchaus keine Mühe verursacht. Durchaus nicht.

Dann fragte er mit seiner ruhigen, etwas belegten Stimme, ob ich mich offiziell beim Hafenmeister über den Steward beklagt hätte.

Ich sagte nein, ich hätte es nicht getan – obgleich es freilich nicht aus Mangel an Gelegenheit gewesen sei – Kapitän Ellis der Kahlköpfige hätte mich in der lächerlichsten Weise angeschnauzt, weil ich nicht zur Stelle war, als man mich brauchte.

„Komischer alter Herr“, warf Kapitän Giles ein. „Was sagten Sie dazu?“

„Ich sagte einfach, dass ich gleich, nachdem ich seine Bestellung erhalten hatte, gekommen sei. Nichts weiter. Ich wollte dem Steward nicht schaden. Ich würde es für unter meiner Würde halten, einen solchen Jammerlappen zu schädigen. Nein. Ich habe mich nicht über ihn beschwert, aber er denkt, glaube ich, dass ich es getan habe. Lassen Sie ihn ruhig dabei. Er hat einen Schreck bekommen, den er nicht so bald wieder vergessen wird, denn Kapitän Ellis würde ihm einen solchen Fußtritt geben, dass er bis nach Mittelasien fliegt...“

„Einen Augenblick“, warf Kapitän Giles ein und verließ mich plötzlich. Ich setzte mich hin, da ich müde war, besonders im Kopf. Ehe ich einen Gedanken fassen konnte, stand er schon wieder vor mir und murmelte, ich möchte entschuldigen, aber er habe gehen müssen, um den armen Kerl zu beruhigen.

Ich sah überrascht auf. In Wirklichkeit jedoch war es mir ganz gleichgültig. Er erklärte mir, dass er den Steward der Länge nach auf dem Gesicht liegend auf dem Rosshaarsofa gefunden habe. Jetzt sei er aber wieder ruhig.

„Er wäre nicht vor Schreck gestorben“, bemerkte ich verächtlich.

„Nein. Aber er hätte eine allzu starke Dosis aus einem der vielen Fläschchen nehmen können, die er in seinem Zimmer hat“, entgegnete Kapitän Giles ernst.

„Der Narr hat schon einmal – vor ein paar Jahren – versucht, sich zu vergiften.“

„Wirklich?“ fragte ich ungerührt. „Meiner Meinung nach würde die Menschheit nicht viel an ihm verlieren.“

„Was das betrifft, könnte man das von recht vielen Menschen sagen.“

„Übertreiben Sie nicht so!“ protestierte ich, ärgerlich lachend. „Ich möchte übrigens wissen, was aus den Menschen hier werden würde, wenn Sie sich nicht mehr um sie kümmern würden, Kapitän Giles. An einem Nachmittag haben Sie mir ein Kommando verschafft und das Leben des Stewards gerettet. Freilich begreife ich nicht, warum Sie sich so für den Steward oder für mich interessieren.“

Kapitän Giles schwieg einen Augenblick. Dann sagte er ernst:

„Er ist im Grunde genommen kein schlechter Steward. Einen guten Koch ausfindig zu machen und, was noch mehr sagen will, ihn zu behalten, wenn er ihn hat, das versteht er. Ich kann mich noch an die Köche erinnern, die wir vor seiner Zeit hier hatten ...“

Ich muss wohl eine ungeduldige Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich mit einer Bitte um Entschuldigung, mich so lange aufgehalten zu haben, wo ich ohne Zweifel jede Minute für meine Vorbereitungen brauchte.

Was ich wirklich brauchte, war, eine Weile allein zu sein. Ich griff also sofort nach dieser mir gebotenen Gelegenheit. Mein Schlafzimmer war eine ruhige Zufluchtsstätte in einem anscheinend unbewohnten Flügel des Hauses. Da ich absolut nichts zu tun hatte (denn meine Sachen hatte ich gar nicht ausgepackt), setzte ich mich auf mein Bett und überließ mich den Eindrücken der Stunde. Den unerwarteten Eindrücken...

Zuerst wunderte ich mich über meinen Gemütszustand. Warum war ich nicht noch mehr erstaunt? Ja, warum? Im Handumdrehen war ich zum Kapitän ernannt worden, nicht etwa im gewöhnlichen Lauf der Dinge, sondern eher wie durch Zauberei. Ich hätte in Staunen aufgehen müssen. Aber ich tat es nicht. Es ging mir genau wie den Leuten in den Märchenbüchern. Nichts vermag sie in Erstaunen zu setzen. Wenn sich ein Kürbis in eine vollständig ausgestattete Gala-Equipage verwandelt, um Aschenbrödel auf einen Ball zu führen, entschlüpft ihr kein Laut des Erstaunens. Ruhig steigt sie hinein und fährt fort, ihrem großen Glück entgegen.

Kapitän Ellis (allerdings eine sehr grimmige Fee) hatte ein Kommando aus einer Schublade geholt, fast ebenso unerwartet, wie es in den Märchen geschieht. Aber ein Kommando ist ein abstrakter Begriff, und es schien mir wie eine Art „kleineres Wunder“, bis mir der Gedanke plötzlich durch den Kopf schoss, dass es das konkrete Vorhandensein eines Schiffes enthielt.

Ein Schiff! Mein Schiff! Mehr als irgendetwas anderes auf der Welt sollte es mir gehören, unter meinem Schutz stehen – ein Gegenstand der Verantwortung und Hingabe. Dort wartete mein Schiff auf mich, festgebannt wie ein verzaubertes Prinzesschen, nicht imstande, sich zu rühren, zu leben, in die Welt hinauszukommen, ehe ich kam. Sein Ruf war wie aus den Wolken zu mir gedrungen. Vorher hatte ich seine Existenz nicht einmal geahnt. Ich wusste nicht, wie es aussah, erst vor kurzem hatte ich seinen Namen gehört, und doch waren wir für die nächste Zukunft unlösbar miteinander vereint, zusammen zu leben oder unterzugehen!

Plötzlich flutete eine leidenschaftliche Welle banger Ungeduld durch meine Adern und gab mir ein solches Bewusstsein von der Intensität des Lebens, wie ich es noch nie empfunden hatte oder seitdem empfunden habe. Es wurde mir klar, wie sehr ich Seemann war – mit dem ganzen Herzen, mit der ganzen Seele, und ich möchte fast sagen, auch physisch einzig und allein ein Mann des Meeres und der Schiffe – die See war die einzige Welt, die zählte, und die Schiffe waren der Prüfstein für die Männlichkeit, das Temperament, den Mut und die Treue – und die Liebe.

Es war ein köstlicher, unvergleichlicher Augenblick. Ich sprang von meinem Platz auf und ging lange in meinem Zimmer auf und ab. Aber als ich das Esszimmer betrat, war ich wieder ganz gefasst. Ich konnte nur nichts zum Abendbrot essen.

Als ich meine Absicht mitteilte, nicht nach dem Kai zu fahren, sondern zu Fuß zu gehen, beeilte sich der jämmerliche Steward – diese Gerechtigkeit muss ich ihm widerfahren lassen – mir Kulis für mein Gepäck aufzutreiben. Außer etwas Geld, das ich in der Tasche hatte, trugen die Kulis meine ganze irdische Habe, über eine lange Stange gehängt, fort. Kapitän Giles erbot sich, mich zu begleiten.

Wir gingen durch die schattige, dunkle Allee über das Glacis. Es war ganz erträglich kühl dort unter den Bäumen. Plötzlich bemerkte Kapitän Giles lachend: „Ich weiß, wer sich diebisch freut, Sie los zu sein.“

Ich vermutete, dass er den Steward meinte. Der Kerl hatte zuletzt ein mürrisches, eingeschüchtertes Wesen gezeigt. Ich drückte meine Verwunderung darüber aus, dass er ohne jeglichen Grund versucht hatte, mir einen so bösen Streich zu spielen.

„Haben Sie nicht gemerkt, dass es seine Absicht war, sich unseres Freundes Hamilton zu entledigen? Er wollte Ihnen zuvorkommen und ihm den Posten zuschieben. So wäre er ihn auf immer los gewesen, verstehen Sie?“

„Großer Gott!“ rief ich mit einem Gefühl der Demütigung. „Ist das möglich? Was muss der Steward für ein Schafskopf sein! Der aufgeblasene, unverschämte Nichtstuer sollte statt meiner –?! Aber das könnte er ja gar nicht… Und doch wäre es ihm beinahe geglückt, glaube ich, denn das Heuerbureau war gezwungen, irgend jemand hinzuschicken.“

„Ja, das ist es eben. Ein Schafskopf wie unser Steward kann mitunter sehr gefährlich werden“, erklärte Kapitän Giles gewichtig. „Gerade weil er ein Schafskopf ist“, fügte er hinzu und erteilte mir mit seiner leisen, selbstzufriedenen Stimme weitere Belehrungen. „Denn“, fuhr er in dem Ton eines Menschen fort, der eine Vorlesung hält, „kein vernünftiger Mensch würde es riskieren, aus der einzigen Stellung, die ihn noch vor dem Verhungern bewahrt, herausgeworfen zu werden, nur um sich von etwas Lästigem – von einer kleinen Plage – zu befreien, nicht wahr?“

„Nein, wohl nicht“, gab ich zu und unterdrückte die Lust zu lachen über seine geheimnisvolle, ernsthafte Art, die Schlussfolgerungen seiner Weisheit vorzutragen, als wären sie die Frucht verbotener Umtriebe. „Aber der Kerl sieht doch ziemlich verrückt aus. Er ist es auch bestimmt.“

„Nun, was das betrifft, so sind meiner Meinung nach alle Menschen ein wenig verrückt“, verkündete er ruhig.

„Ohne Ausnahme?“ fragte ich, nur um seine Antwort zu hören.

Er schwieg eine Weile, dann versetzte er mir einen ganz netten Hieb.

„Freilich! Kent sagt das sogar von Ihnen.“

„So?“ entgegnete ich und empfand plötzlich einen heftigen Groll gegen meinen früheren Kapitän. „Davon steht aber nichts in dem Zeugnis, das er mir gab und das ich in meiner Tasche trage. Hat er Ihnen etwa Beispiele meiner Verrücktheit gegeben?“

In einem beschwichtigenden Ton erklärte Kapitän Giles, dass es eine freundschaftliche Bemerkung gewesen sei, die sich auf meinen plötzlichen und scheinbar gänzlich grundlosen Abgang von dem Schiff bezog.

„Ach, deswegen!“ brummte ich ärgerlich und beschleunigte meine Schritte. Gewissenhaft blieb er in der dunklen Allee an meiner Seite, als wäre es seine Pflicht, mich als verdächtige Person sicher bis zur Abfahrtsstelle zu geleiten. Er keuchte ein wenig, was eigentlich etwas Rührendes hatte. Aber ich war nicht gerührt. Im Gegenteil. Ich empfand eher eine Art Schadenfreude über dieses Zeichen seines Unbehagens.

Nach einer Weile jedoch ließ ich mich erweichen, verlangsamte meinen Schritt und sagte:

„Was ich wirklich wollte, war, das Leben wieder frisch anzupacken. Ich hatte das Gefühl, dass es höchste Zeit sei. Ist das so verrückt?“

Er antwortete nicht. Wir näherten uns dem Ende der Allee. Auf der Kanalbrücke stand eine dunkle, unschlüssige Gestalt, die auf etwas oder jemand zu warten schien.

Es war ein malaiischer Polizist, barfuß, in blauer Uniform. Nur der Silberstreifen auf seiner kleinen, runden Mütze schimmerte matt im Licht der Straßenlaterne. Furchtsam spähte er in unsere Richtung.

Bevor wir ihn erreichten, drehte er sich um und ging vor uns dem Landungsplatz zu, der nur noch einige hundert Meter entfernt lag. Dort fand ich meine Kulis wieder. Sie hockten auf der Erde, und zwischen ihnen lag mein ganzes Hab und Gut, das noch an der Stange, die auf ihrer Schulter ruhte, festgebunden war. So weit das Auge reichte, war auf dem Kai kein menschliches Wesen zu erblicken, der eingeborene Polizist ausgenommen, der uns militärisch grüßte.

Offenbar waren ihm die Kulis verdächtig erschienen, und er hatte sie angehalten und ihnen verboten, auf den Landungsplatz zu gehen. Aber auf einen Wink von mir gab er ihnen bereitwilligst den Weg frei. Die beiden geduldigen Burschen standen gleichzeitig mit einem leisen Grunzen auf und trabten davon, die Planken hinunter, während ich Anstalten machte, mich von Kapitän Giles zu verabschieden, der mit einer Miene dastand, als halte er seine Mission nunmehr für beendet. Es war nicht zu leugnen, dass er das alles bewirkt hatte. Während ich nach geeigneten Worten suchte, bemerkte er:

„Sie werden wahrscheinlich alle Hände voll zu tun haben, um Ordnung in die Sache zu bringen.“

Ich fragte ihn, warum er das denke. Er erwiderte, dass seine allgemeinen Erfahrungen ihn das vermuten ließen: Schiff sehr lange unterwegs, Reeder durch Kabeldepesche unerreichbar, und der einzige Mann, der Aufklärung geben könnte, tot und begraben.

„Und Sie eigentlich neu in dem Geschäft“, schloss er in einem unwiderlegbaren Ton.

„Betonen Sie das nur nicht“, meinte ich. „Ich weiß es nur zu gut. Ich wünschte bloß, Sie könnten mir, ehe ich fahre, etwas von Ihren Erfahrungen mitteilen. Da das jedoch nicht in zehn Minuten geht, so ist es besser, ich fange erst gar nicht an zu fragen. Außerdem wartet schon die Dampfbarkasse auf mich. Aber ich werde erst wirklich ruhig sein, wenn ich mein Schiff glücklich im Indischen Ozean habe.

Er bemerkte nebenbei, dass von Bangkok bis zum Indischen Ozean ein ganz hübscher Weg sei. Wie ein schwaches Aufblitzen aus einer dunklen Laterne zeigten mir diese hingemurmelten Worte einen Augenblick lang den breiten Gürtel von Inseln und Riffen, die zwischen jenem unbekannten Schiff – meinem Schiff – und der Freiheit der großen Gewässer des Erdballs lagen.

Aber mir war nicht bange. Mit dem Archipel war ich bereits ganz vertraut. Mit außerordentlicher Geduld und Vorsicht würde ich mich schon durch jenes Gebiet zerklüfteten Landes, schwacher Winde und bleiern toter Gewässer hindurch bringen, dorthin, wo ich endlich fühlen würde, wie mein Schiff von der Dünung getragen und von dem mächtigen Odem gleich mäßiger Winde getrieben wird: Das würde ihm das Gefühl von einem größeren, intensiveren Leben geben. Der Weg dahin würde lang sein. Aber alle Wege, die zur Erfüllung eines Herzenswunsches führen, sind lang. So klar wie auf einer Seekarte konnte ich als Seemann diesen schwierigen, so verwickelten und doch so einfachen Weg vor mir sehen. Entweder ist man Seemann oder nicht. Und dass ich einer war, bezweifelte ich nicht.

Die einzige Gegend, die ich noch nicht kannte, war der Golf von Siam. Dies erwähnte ich Kapitän Giles gegenüber. Nicht weil ich sehr besorgt darüber war. Der Golf gehörte ja demselben Gebiet an, dessen Charakter ich kannte, in dessen Seele ich tief hineingeschaut zu haben schien in den letzten Monaten jener Zeit, mit der ich jetzt gebrochen hatte, plötzlich, wie man sich von einer entzückenden Gesellschaft trennt.

„Der Golf... Ja ! Ein merkwürdiges Stückchen See, das!“ bemerkte Kapitän Giles.

„Merkwürdig“ in diesem Zusammenhang gebraucht, sagte mir nicht viel. Das ganze klang wie die Bemerkung eines vorsichtigen Menschen, der sich keine Klage wegen Verleumdung auf den Hals laden will.

Ich erkundigte mich nicht näher nach der Bedeutung des Wortes „merkwürdig“. Es war auch wirklich keine Zeit dazu. Aber ganz zuletzt gab er mir unaufgefordert eine Warnung.

„Sie müssen sich unter allen Umständen stets östlich halten. Zu dieser Jahreszeit ist die Westseite gefährlich. Lassen Sie sich ja nicht hinüber locken. Dort werden Sie nichts als Unannehmlichkeiten haben.“

Obgleich ich mir nicht vorzustellen vermochte, was mich verleiten könnte, mein Schiff in die Strömungen und Klippen der malaiischen Küste hineinzubringen, dankte ich ihm für den Rat.

Er schüttelte meine ausgestreckte Hand sehr herzlich, und unsere Bekanntschaft endete jäh in den Worten: „Gute Nacht“.

Das war alles, was er sagte. „Gute Nacht“. Weiter nichts. Ich weiß nicht, was ich eigentlich hatte sagen wollen, jedenfalls war ich so überrascht, dass ich es – was es auch gewesen war – verschluckte. Ich hüstelte ein wenig und rief dann mit nervöser Hast: „Ach, gute Nacht, Kapitän Giles, gute Nacht!“

Seine Bewegungen waren immer langsam und bedächtig, aber ehe ich mich soweit gesammelt hatte, dass ich seinem Beispiel folgen und mich umdrehen konnte, um nach dem Landungsplatz zu gehen, war seine Gestalt auf dem verlassenen Kai kaum mehr zu erkennen.

Doch meine Bewegungen waren nichts weniger als bedächtig. Ich eilte die Stufen hinunter und sprang in die Dampfbarkasse hinein. Kaum war ich achtern im Cockpit gelandet, als das schlanke, kleine Boot auch schon davon schoss. Hinten quirlte das Schraubenwasser auf, und zischend entwich der Dampf aus dem undeutlich schimmernden Messingschornstein mittschiffs.

Das gurgelnde Geräusch der Heckwelle war der einzige Laut in dem ganzen Weltall. Das Land lag im Schweigen tiefsten Schlummers versunken. Ich beobachtete, wie die Stadt still und lautlos in der heißen Nacht meinen Blicken immer mehr entschwand, bis mich der plötzliche Anruf „Dampfboot ahoi!“ aufrüttelte und ich mich wie elektrisiert umdrehte. Wir waren dicht vor einem weißen, geisterhaften Dampfer. An Deck leuchteten brennende Lampen, und Licht strömte aus den Bullaugen. Dieselbe Stimme schrie: „Ist das unser Passagier?“

„Jawohl“, brüllte ich.

Seine Mannschaft hatte mich augenscheinlich ungeduldig erwartet. Ich konnte hören, wie sie umherlief. Der moderne Geist der Hast wurde deutlich fühlbar in den Anordnungen: „Vorleine her!“ „Fallreep herunter!“ und in der dringenden Aufforderung an mich: „Schnell! Wir haben schon drei Stunden Ihretwegen verloren ... Unsere Abfahrtszeit war eigentlich sieben Uhr, müssen Sie wissen!“

Ich trat an Deck. „Nein,“ sagte ich, „das weiß ich nicht.“ Der moderne Geist der Hast wurde durch einen mageren Mann verkörpert, der lange Arme, lange Beine und einen grauen gestutzten Bart hatte. Seine knochige Hand war heiß und trocken. Nervös rief er:

„Zum Teufel noch einmal! Nicht fünf Minuten länger hätte ich gewartet – für keinen Hafenmeister der Welt!“

„Das ist Ihre Angelegenheit“, sagte ich. „Ich habe Sie jedenfalls nicht gebeten, auf mich zu warten.“

„Hoffentlich wollen Sie kein Abendbrot haben“, platzte er alsdann heraus. „Ich habe kein schwimmendes Hotel. Sie sind der erste Passagier, den ich jemals gehabt habe, und ich hoffe zu Gott, Sie werden der letzte sein.“

Auf diese gastfreundliche Mitteilung gab ich ihm keine Antwort; er wartete sie auch gar nicht ab, sondern stürzte auf seine Kommandobrücke, um sein Schiff in Fahrt zu bringen.

Während der vier Tage, die ich an Bord verbrachte, behielt er mir gegenüber diese halbfeindliche Haltung bei. Er konnte es mir nicht verzeihen, dass sein Schiff wegen einer so unbedeutenden Persönlichkeit wie ich drei Stunden aufgehalten worden war. Er sprach sich zwar nicht offen darüber aus, aber seine ärgerliche Verwunderung ging fortwährend aus seinen Reden hervor.

Er war lächerlich.

Als Seemann hatte er eine reiche Erfahrung, mit der er sehr gern renommierte, jedoch einen größeren Kontrast als zwischen ihm und Kapitän Giles konnte man sich gar nicht vorstellen. Ich hätte mich über ihn amüsiert, wenn ich in der Stimmung gewesen wäre, mich zu amüsieren, aber das war ich nicht. Ich war wie ein Verliebter, der sich auf ein Wiedersehen mit der Geliebten freut. Die Feindseligkeit eines Menschen bedeutete mir nichts. Meine Gedanken weilten bei meinem unbekannten Schiff. Das bot mir Zerstreuung genug, Qual genug, Beschäftigung genug.

Er merkte, in welchem Gemütszustand ich mich befand, denn er war ganz intelligent, und er machte sich heimlich lustig über meine Verträumtheit, wie es manche hässliche, zynische alte Männer den Träumen und Illusionen der Jugend gegenüber tun. Ich hütete mich jedoch, ihn über das Aussehen meines Schiffes auszufragen, obgleich ich mir darüber klar war, dass er es kennen musste, da er alle vier bis sechs Wochen nach Bangkok fuhr. Aber ich hatte keine Lust, das Schiff – mein Schiff! – irgendwelchen abfälligen Bemerkungen auszusetzen.

Dieser Mensch war der erste, mit dem ich in Berührung kam, der wirklich ohne jede Teilnahme war. Ich hatte noch viel zu lernen, obgleich ich es nicht wusste. Nein, ich wusste es nicht!

Ich wusste nur, dass er mich nicht leiden konnte und mich auch ein wenig verachtete. Warum eigentlich? Augenscheinlich weil sein Schiff meinetwegen drei Stunden aufgehalten worden war. Wer war ich, dass man so etwas für mich tat? Derartiges hatte man noch niemals für ihn getan. Es war eine Art eifersüchtiger Entrüstung.

Meine mit Bangigkeit gemischten Erwartungen waren bis aufs höchste gespannt. Wie langsam waren die Tage der Fahrt verstrichen, und doch wie schnell waren sie vorüber! Eines Tages, ganz frühmorgens, passierten wir die Barre, und während die Sonne sich in ihrer vollen Pracht über dem flachen Landstrich erhob, dampften wir die unzähligen Windungen des Flusses hinauf, glitten an der großen vergoldeten Pagode vorbei, die ihren Schatten auf uns warf, und erreichten die äußerste Häusergrenze der Stadt.

An beiden Ufern ausgebreitet lag sie dort, die orientalische Hauptstadt, die noch keinen weißen Eroberer hatte erdulden müssen; in weiter Ausdehnung standen die braunen Häuser aus Bambusrohr, aus Matten, aus Laub, diese aus Pflanzenstoffen gebauten Wohnstätten, die dem braunen Erdreich an den Ufern des schlammigen Flusses entsprossen schienen. Es war erstaunlich, wenn man es sich überlegte, dass in all den menschlichen Behausungen, die sich meilenweit erstreckten, wahrscheinlich kaum ein halbes Dutzend Pfund Nägel steckten. Manche dieser Häuser aus Stäben und Gras hingen an dem tiefliegenden Ufer wie die Nester einer im Wasser lebenden Vogelart. Andere schienen direkt aus dem Wasser zu wachsen, andere wieder schwammen in langen Reihen auf fest verankerten Flößen mitten im Strom. Hier und da ragten in der Ferne über dem unordentlichen Haufen niedriger brauner Dachfirsten große Gebäudemassen empor – die königliche Residenz, die Tempel – prunkvoll und ruinenhaft, gleichsam zerbröckelnd unter den senkrechten Sonnenstrahlen, diesen fürchterlichen, überwältigenden, fast greifbaren Strahlen, die einem mit dem eigenen Atem in die Brust zu dringen und sich durch alle Poren in die Glieder einzusaugen schienen.

Der von lächerlicher Eifersucht geplagte Kapitän hatte gerade, aus welchem Grunde, weiß ich nicht, die Maschinen stoppen lassen. Der Dampfer trieb langsam mit der Flut den Fluss hinauf. Ohne auf meine neue Umgebung zu achten, ging ich in banger, dumpfer Zerstreutheit an Deck auf und ab, halb in romantische Träumerei, halb in eine höchst praktische Abschätzung meiner Fähigkeiten versunken. Denn der Zeitpunkt nahte, da ich mein Schiff sehen und meine Tauglichkeit für den Beruf in einer letzten Prüfung beweisen sollte.

Plötzlich hörte ich meinen Namen von jenem Idioten rufen. Er winkte mir, zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen.

Ich hatte zwar keine sehr große Lust, aber da er mir anscheinend etwas Besonderes sagen wollte, ging ich zu ihm hinauf.

Er legte mir die Hand auf die Schulter, so dass ich mich umdrehen musste, während er mit der anderen Hand auf etwas zeigte.

„Da, sehen Sie! Dort liegt Ihr Schiff!“ sagte er.

Ich fühlte einen dumpfen Schlag in der Herzgegend – nur einen – und dann war mir, als hätte das Herz ganz aufgehört zu schlagen. Es lagen ungefähr zehn Schiffe vertäut am Ufer, aber die Aussicht auf das, welches er meinte, war durch das Achterschiff des nächstliegenden verdeckt. Er sagte: „Wir werden gleich querab von ihm sein.“

Was lag in seinem Ton? Spott? Drohung? Oder nur Gleichgültigkeit? Ich konnte es nicht sagen. Ich mutmaßte etwas Bosheit in diesem plötzlich zur Schau getragenen Interesse für mich.

Er verließ mich, und ich lehnte mich über die Reling der Brücke und schaute ins Wasser. Ich wagte nicht, die Blicke zu erheben. Und doch musste es geschehen – ich hätte auch im Grunde genommen nicht anders gekonnt. Ich glaube, ich zitterte.

Aber sowie meine Blicke auf meinem Schiff ruhten, schwand meine Bangigkeit rasch wie ein böser Traum. Nur dass ein Traum keine Empfindung der Beschämung zurücklässt, und einen Moment lang schämte ich mich ob meines unwürdigen Misstrauens.

Ja, da lag es. Das Unterschiff, die Takelung waren eine förmliche Augenweide. Das Gefühl der Lebensleere, das mich während der letzten Monate so ruhelos gemacht hatte, verlor seine bittere Berechtigung, seine böse Macht und löste sich in einer Flut freudiger Erregung aus.

Auf den ersten Blick sah ich an den schönen Linien seines Baus, an den wohlproportionierten Ausmaßen der Takelage, dass es ein erstklassiges Fahrzeug, eine harmonische Schöpfung war. Welches Alter und welche Vergangenheit es auch haben mochte, es hatte noch das Gepräge seines Ursprungs bewahrt. Es gehörte zu jenen Schiffen, die infolge des vorzüglichen Materials und seiner glänzenden Verarbeitung niemals alt aussehen. Unter seinen Gefährten, die ebenfalls vertäut am Ufer lagen und alle größer waren, sah es aus wie ein Geschöpf höherer Rasse – ein arabisches Vollblut unter Ackergäulen.

Eine Stimme hinter mir sagte in einem hässlichen, maliziösen Ton: „Ich hoffe, Sie sind mit Ihrem Schiff zufrieden.“ Ich wandte nicht einmal den Kopf. Es war der Führer des Dampfers, und was er auch meinte oder von dem Schiff dachte, ich wusste, dass es wie einige Frauen zu jenen Schöpfungen gehörte, deren bloße Existenz ein reines, neidloses Entzücken erweckt. Man hat das Gefühl, dass es eine Freude sei, einer Welt anzugehören, in welcher diese Schöpfung ihr Dasein hat.

Jene Illusion des Lebens und der Natur, die uns bei den schönsten Kunstwerken der Menschen entzückt, strahlte von ihm aus. Ein riesiger Balken Teakholz schwebte über einer seiner Ladeluken, eine leblose Materie, die schwerer und größer aussah als alles andere an Bord. Als man anfing, den Balken herunterzulassen, ging beim Schüttern des Takels ein Beben durch das Fahrzeug, von seiner Wasserlinie, die feinen Nerven der Takelung hinauf bis zum Flaggenknopf, als hätte es bei der Schwere der Ladung geschaudert. Es schien grausam, es so zu belasten...

Als ich eine halbe Stunde später den Fuß zum ersten |Mal auf das Deck meines Schiffes setzte, hatte ich ein Gefühl tiefster physischer Befriedigung. Nichts konnte der Fülle dieses Augenblicks gleichen, der idealen Vollkommenheit dieses seelischen Erlebnisses, das mir beschert worden war, ohne dass ich alle die Mühseligkeiten und Enttäuschungen einer gewöhnlichen Karriere durchzukosten brauchte.

Schnell glitt mein Blick über mein Schiff, umfasste es, nahm Besitz von seiner Gestalt, welche den abstrakten Begriff meines Kommandos konkret darstellte. Eine Menge Einzelheiten, die nur für den Seemann wahrnehmbar sind, fielen mir in diesem Moment ins Auge. Im Übrigen sah ich mein Schiff von den materiellen Bedingungen seines Daseins befreit. Es war, als ob das Ufer, an dem es vertäut lag, nicht existierte. Was bedeuteten mir alle Länder der Erdkugel? In allen Weltteilen, die von schiffbaren Gewässern umspült werden, würde unser Verhältnis zueinander das gleiche bleiben – ein engeres, als es sich in Worten ausdrücken lässt. Daneben würden alle Landschaften und Ereignisse bloße vorüberziehende Scheinbilder sein. Selbst die um das Großluk beschäftigten gelben Kulis waren nicht so wirklich wie der Stoff, aus dem Träume gemacht sind. Denn wer in aller Welt würde von Chinesen träumen...?

Ich ging nach achtern, stieg auf das Schanzdeck, wo unter dem Sonnensegel die Messingbeschläge der jachtähnlichen Fittings, die polierten Flächen der Reling und das Glas der Deckdichter funkelten. Ganz nach achtern zu waren zwei Matrosen mit dem Putzen der Ruderradbeschläge beschäftigt; Lichtreflexe spielten dabei auf ihren gebeugten Rücken. Sie setzten ihre Arbeit fort, ohne meine Nähe und den fast liebevollen Blick zu ahnen, den ich ihnen im Vorbeigehen zuwarf, als ich dem Niedergang zuschritt.

Die Schiebetüren standen ganz weit auf. Durch die halbe Biegung, welche die Treppe machte, konnte man den Kajütengang nicht übersehen. Ein leises Summen klang von unten herauf, aber es hörte jäh auf bei dem Klang meiner herabsteigenden Schritte.

III

Das erste, was ich dort unten sah, war ein männlicher Oberkörper, der aus einer der Türen am Fuße der Treppe gleichsam rücklings herausragte. Unbeweglich sahen mich seine weit geöffneten Augen an. In der einen Hand hielt er einen Teller, in der anderen ein Tuch.

„Ich bin Ihr neuer Kapitän“, sagte ich ruhig.

In der nächsten Sekunde, im Handumdrehen, hatte er sich des Tellers und des Tuches entledigt und war hinzugesprungen, um mir die Tür zur Kajüte zu öffnen. Sobald ich in die Messe hineingegangen war, verschwand er, erschien jedoch sofort wieder und knöpfte sich noch den Rock zu, den er mit der Geschwindigkeit eines Verwandlungskünstlers angezogen hatte.

„Wo ist der Erste Steuermann?“ fragte ich.

„Im Raum, glaube ich, Kap’tän. Ich sah ihn vor zehn Minuten ins Achterluk hinübersteigen.“

„Sagen Sie ihm, dass ich an Bord bin.“

Der Mahagonitisch unter dem Deckslicht leuchtete im Zwielicht wie ein dunkler Wasserteich. Über dem Büfett hing ein breiter Spiegel in einem vergoldeten Rahmen. Auf der Marmorplatte des Büfetts standen zwei versilberte Lampen und einige andere Prunkstücke – die offenbar für die Zeit, wo das Schiff im Hafen lag, herausgestellt waren. Die Messe selbst war in zwei Holzarten getäfelt, und zwar mit dem vortrefflichen, einfachen Geschmack, welcher herrschte, als das Schiff gebaut wurde.

Ich setzte mich in den Lehnstuhl am Kopfende des Tisches – in den Stuhl des Kapitäns, vor welchem ein kleiner Hängekompass hing – ein stummer Mahner zur unermüdlichen Wachsamkeit.

Eine ganze Reihe von Männern hatte nacheinander in diesem Stuhl gesessen. Dieser Gedanke drängte sich mir blitzartig auf, als hätte jeder einzelne ein Stückchen seiner selbst zwischen diesen vier schmucken Schottwänden zurückgelassen – als ob die Seele aller Führer dieses Schiffes zu einer verschmolzen – zur Seele der Kommandogewalt – plötzlich der meinen von langen Tagen und sorgenvollen Stunden auf See zugeflüstert hätte

„Auch du!“ schien sie zu sagen, „auch du wirst in grüblerischer Zwiesprache mit dir selbst von jenem Frieden und von jener Unrast kosten – einsam, wie wir es waren, und ebenso erhaben – angesichts aller Winde und aller Meere, einer Unermesslichkeit gegenüber, die keinen Eindruck aufnimmt, die keine Erinnerungen bewahrt und keine Rechnung führt über verlorene Menschenleben.“

In dem angelaufenen, vergoldeten Spiegelrahmen konnte ich in dem warmen Halblicht, das durch das Sonnensegel sickerte, mein eigenes Gesicht sehen, in beide Hände gestützt. Und ich starrte mich selbst mit der vollkommenen Objektivität der Entfernung an, eher mit Neugierde als mit einer anderen Empfindung, höchstens mit etwas Teilnahme für diesen letzten Vertreter einer Dynastie, wie man sie mit Recht nennen konnte, die freilich nicht durch Bande des Bluts fortdauert, sondern allein durch Erfahrung, Schulung, Pflichtbewusstsein und die prachtvolle Schlichtheit traditioneller Lebensanschauungen.

Ich hatte plötzlich die Empfindung, dass dieser ruhig blickende Mann, den ich beobachtete, als wäre er gleichzeitig ich selbst und ein Fremder, eigentlich keine einsame Gestalt sei. Er hatte seinen Platz in einer Reihe von Männern, die er zwar nicht kannte, von denen er nie gehört hatte, die jedoch von denselben Mächten gestaltet worden waren, deren Seelen, was ihren schlichten Lebensberuf betraf, keine Geheimnisse für ihn hatten.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich nicht mehr allein im Zimmer war, ein Mann stand ein wenig abseits und betrachtete mich aufmerksam. Es war der Erste Steuermann. Sein Gesicht, das durch seinen langen, roten Schnurrbart ein charakteristisches Gepräge bekam, machte sonderbarerweise einen unheimlich kampflustigen Eindruck auf mich.

Wie lange hatte er da gestanden und mich bei meinen Träumereien am hellen, lichten Tage mit kritischem Blick betrachtet? Wenn ich nicht an der Uhr im Spiegelrahmen vor mir gemerkt hätte, dass der große Zeiger sich fast gar nicht bewegt hatte, wäre es mir viel peinlicher gewesen.

Ich konnte nicht länger als zwei, höchstens drei Minuten in der Kajüte gewesen sein. Da konnte er mich kaum eine Minute beobachtet haben, gottlob! Aber trotzdem bedauerte ich das Vorkommnis.

Ich ließ mir jedoch nichts anmerken, als ich mich langsam erhob (langsam musste es geschehen) und ihn mit größter Freundlichkeit begrüßte.

Es lag etwas Widerstrebendes und zugleich Aufmerksames in seinem Wesen. Er hieß Burns. Wir verließen die Kajüte und machten zusammen die Runde durch das Schiff. Sein Gesicht erschien in dem vollen Tageslicht sehr angegriffen, mager, ja sogar verhärmt. Ich genierte mich, ich weiß nicht warum, ihn allzu oft anzusehen; seine Blicke hingegen hingen förmlich an meinem Gesicht. Seine grünlichen Augen hatten einen erwartungsvollen Ausdruck.

Auf alle meine Fragen antwortete er zwar ganz bereitwillig, jedoch glaubte ich, in seinem Ton etwas Widerstrebendes zu hören. Der Zweite Steuermann war mit drei oder vier Matrosen vorn beschäftigt. Herr Burns nannte mir seinen Namen, und ich nickte ihm im Vorbeigehen zu. Er sah sehr jung aus und machte den Eindruck eines ziemlich ungehobelten Menschen.

Als wir wieder unten waren, setzte ich mich in die Ecke eines breiten, halbkreisförmigen, oder vielmehr halbovalförmigen Plüschsofas. Dieses nahm die ganze Rückseite der Kajüte ein. Herr Burns, den ich mit einer Handbewegung aufforderte, Platz zu nehmen, ließ sich auf einen der Drehstühle nieder, die vor dem Tisch standen. Seine Blicke ruhten mit demselben eigentümlichen Ausdruck weiter beharrlich auf meinem Gesicht, als sei dieses alles nur ein Trugbild, und er erwarte jeden Augenblick, dass ich aufstehe, in Gelächter ausbreche, ihm einen Schlag auf den Rücken gebe und vor seinen Augen entschwinde.

Die Situation wurde so eigentümlich bedrückend, dass mir ganz unbehaglich zumute wurde. Ich versuchte, dieses unklare Gefühl abzuschütteln.

„Es ist nur meine Unerfahrenheit“, dachte ich.

Als ich diesen Mann ansah, der, soviel ich beurteilen konnte, mehrere Jahre älter war als ich, wurde ich mir bewusst, was ich schon hinter mir gelassen hatte – nämlich meine Jugend. Das war allerdings ein schwacher Trost. Die Jugend ist etwas Schönes – eine große Macht – solange man nicht daran denkt. Ich hatte das Gefühl, dass ich verlegen wurde. Fast gegen meinen Willen nahm ich eine würdevolle Miene an. Ich sagte: „Ich sehe, Sie haben das Schiff sehr gut im Stand gehalten, Herr Burns.“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, als ich mich ärgerlich fragte, warum zum Teufel ich das gesagt hatte. Als Antwort blinzelte Herr Burns mich nur an. Was in aller Welt meinte er damit?

Ich kam auf eine Frage zurück, die schon lange meine Gedanken beschäftigt hatte – die natürlichste Frage der Welt für jeden Seemann, der ein neues Schiff bekommt. Ich sprach sie (der Teufel hole diese blöde Verlegenheit!) in einem möglichst heiteren, unbefangenen Ton aus: „Es ist ein braves Schiff, was?“

Nun aber hätte eine Frage wie diese auf ganz alltägliche Weise beantwortet werden können, entweder in einem kummervollen, aber verteidigenden Ton, oder mit schlecht verhehltem Stolz, wie: „Ich will nicht prahlen, aber Sie werden schon selbst sehen.“ Es gibt auch Seeleute, die sich in einem solchen Fall mit derber Offenheit etwa so äußern würden: „Faules Stück“ oder mit freimütigem Entzücken: „Das fliegt nur so!“ Vier Arten, zwei Meinungen auszudrücken.

Aber Herr Burns erfand noch eine andere Art – eine eigene – die jedenfalls den Vorteil hatte, dass er dabei keinen Atem vergeudete.

Er schwieg einfach wieder und runzelte nur die Stirn. Es war ein ärgerliches Stirnrunzeln. Ich wartete. Nichts weiter erfolgte.

„Was ist denn los? ... Können Sie es mir nicht sagen, nachdem Sie fast zwei Jahre auf dem Schiff zugebracht haben?“ fuhr ich ihn ziemlich barsch an.

Er sah einen Augenblick so erschrocken aus, als hätte er jetzt erst meine Anwesenheit entdeckt. Aber dieser Ausdruck schwand fast sofort. Er nahm eine gleichgültige Miene an. Jedoch schien er es für ratsamer zu halten, etwas zu sagen. Er erklärte, dass man einem Schiff genau wie einem Menschen die Gelegenheit geben müsse, sich in seinem besten Licht zu zeigen, und diesem Schiff habe man, seitdem er an Bord gewesen, niemals die Möglichkeit gegeben, zu zeigen, was es könnte. Wenigstens nicht dass er wüsste. Der vorige Kapitän ... Er hielt inne.

„Hat er denn so viel Pech gehabt?“ fragte ich mit unverhohlenem Zweifel. Herr Burns wandte die Blicke von mir ab. Nein, der vorige Kapitän habe kein besonderes Pech gehabt. Das könne man nicht sagen. Aber er habe allem Anschein nach nicht von seinem Glück Gebrauch machen wollen.

Der rätselhafte Herr Burns berichtete mit unbeweglichem Gesicht und eigensinnig auf den Ruderkoker gehefteten Blicken. Seine Worte enthielten dunkle Andeutungen.

„Wo ist er gestorben?“ fragte ich ruhig.

„In dieser Kajüte, da wo Sie jetzt sitzen“, antwortete Herr Burns.

Ich musste zwar einen törichten Impuls, aufzuspringen, unterdrücken, aber im Grunde genommen war ich froh, zu hören, dass er nicht in dem Bett, das mir jetzt gehören sollte, gestorben war. Ich erklärte dem Ersten Steuermann, es interessiere mich hauptsächlich zu wissen, wo er seinen vorigen Kapitän beigesetzt habe.

Herr Burns sagte, dass es am Eingang des Golfes gewesen sei. Ein geräumiges Grab; eine ausreichende Antwort. Aber der Erste Steuermann ließ es nicht dabei bewenden – obwohl er es vielleicht ganz gern getan hätte – sondern überwand sichtlich eine Empfindung – ein sonderbares Widerstreben, an meine Ankunft zu glauben, wenigstens sie als eine unwiderrufliche Tatsache anzusehen.

Als schlösse er ein Kompromiss mit seinen Gefühlen, redete er unentwegt den Ruderkoker an, so dass er aussah wie ein Mann, der – wenn auch unbewusst – mit sich selbst spricht.

Er erzählte, dass er bei „sieben Glas“ in der Vormittagswache die ganze Mannschaft auf dem Mitteldeck versammelt und ihnen gesagt hatte, sie sollten zu dem Kapitän hinuntergehen und sich von ihm verabschieden.

Diese in missgünstigem Tone hervorgebrachten Worte, als spräche er mit einem Eindringling, genügten doch, um mir die seltsame Zeremonie lebhaft vor Augen zu führen: die barfüßigen, barhäuptigen Seeleute, die sich verlegen in diese Kajüte hineindrängten, ein kleines, gegen das Büfett gedrücktes Häufchen Männer, die sich eher unbehaglich als bewegt fühlten, mit entblößter, sonnverbrannter Brust und verwittertem Gesicht, die alle mit demselben ernsten, erwartungsvollen Ausdruck den Sterbenden anstarrten.

„War er noch bei Bewusstsein?“ fragte ich.

„Er sprach nicht, aber er öffnete die Augen und sah sie an“, erwiderte der Erste Steuermann.

Nach ein paar Minuten hatte Herr Burns der Mannschaft mit einer Handbewegung angedeutet, die Kajüte zu verlassen, nur die zwei ältesten Männer, ordnete er an, sollten bei dem Kapitän bleibe, während er mit seinem Sextanten an Deck ging, um die Mittagshöhe zu nehmen. Es war gegen Mittag, und er wollte eine gute Breitenbeobachtung machen. Als er wieder hinunter kam, um seinen Sextanten fortzulegen, fand er, dass die beiden Männer sich in den Kajütenvorraum zurückgezogen hatten. Durch die offene Tür konnte er sehen, wie der Kapitän in den Kissen zurückgelehnt saß. Während Herr Burns seine Beobachtungen machte, war er „hinübergegangen“. Fast genau um die Mittagszeit. Er hatte kaum seine Lage verändert.

Herr Bums seufzte und sah mich neugierig an, als wollte er sagen: „Gehen Sie noch immer nicht?“ und dann wanderten seine Gedanken von seinem neuen Kapitän zu dem alten zurück, der, weil er tot war, keine Autorität mehr hatte, niemandem im Wege war und mit dem man darum viel leichter fertig werden konnte.

Herr Burns berichtete ausführlich von ihm. Er war ein eigentümlicher Mensch gewesen – ungefähr fünfundsechzig Jahre alt – mit angegrautem Haar, einem harten Gesicht und eigensinnigem, sehr verschlossenem Wesen. Das Schiff pflegte er ohne jeden erkennbaren Grund ziellos auf hoher See umherfahren zu lassen. Manchmal ging er nachts an Deck, ließ – weiß Gott warum oder wozu – das eine oder das andere Segel wegnehmen und ging dann hinunter, um sich in seine Kajüte einzuschließen und Geige zuspielen – stundenlang – manchmal, bis der Tag anbrach. Er verbrachte in der Tat den größten Teil seiner Zeit – einerlei, ob es Tag oder Nacht war – beim Geigenspiel. Das heißt, wenn ihn die Laune anwandelte. Dazu sehr laut.

Es ging so weit, dass Herr Burns sich eines Tages ein Herz fasste und seinem Kapitän ernstliche Vorstellungen machte. Nicht allein er, sondern auch der Zweite Steuermann konnten des Lärmes wegen während ihrer Freiwachen kein Auge zutun ... wie konnte man dann von ihnen erwarten, dass sie wach blieben, wenn sie Dienst hatten? fragte er. Die Antwort des strengen Mannes lautete, dass, wenn es ihm und dem Zweiten Steuermann nicht passte, sie gern ihre Siebensachen packen und an Land spazieren könnten. Als sie vor diese Wahl gestellt wurden, befand sich das Schiff zufällig sechshundert Seemeilen von Land entfernt.

Hier hielt Herr Burns inne und sah mich neugierig an. Ich begann, meinen Vorgänger für einen sehr eigentümlichen alten Mann zu halten.

Aber ich sollte noch Seltsameres zu hören bekommen. Es stellte sich heraus, dass dieser strenge, grimmige, von Wind und Wetter gebräunte, raue, seefeste, wortkarge fünfundsechzigjährige Seemann nicht nur ein Künstler gewesen, sondern auch verliebt war. In Hai Phòng, wo sie nach einer Reihe höchst uneinträglicher Irrfahrten einliefen (während derer das Schiff zweimal dem Untergang nahe gewesen war), bekam er es fertig, sich mit irgendeinem Weibsbild „einzulassen“ – um Herrn Burns eigene Worte zu gebrauchen. Herr Burns wusste zwar nichts Näheres über diese Angelegenheit, aber einen unwiderlegbaren Beweis davon lieferte eine Photographie, die in Hai Phòng aufgenommen worden war. Herr Burns hatte sie in einer Schublade in der Kajüte gefunden.

Im Laufe der Zeit bekam ich ebenfalls dieses erstaunliche Dokument zu sehen. (Ich warf es sogar später über Bord.) Da saß er, die Hände auf die Knie gestützt, kahl, untersetzt, mit dem grauen, stoppligen Bart – er erinnerte irgendwie an ein Wildschwein – und neben ihm stand, ihn überragend, eine fürchterliche, ältliche weiße Frau mit raubtierähnlichen Nasenlöchern und einem gemeinen, unheimlich glotzenden Ausdruck in ihren riesigen Augen. Sie hatte ein halb orientalisches, ordinäres Maskenkostüm an und sah aus wie ein ganz billiges Medium oder eine jener Kartenlegerinnen, die für zweieinhalb Schilling die Zukunft prophezeien. Und doch hatte sie etwas nicht Alltägliches. Eine berufsmäßige Wahrsagerin von der übelsten Sorte. Es war unbegreiflich. Etwas Schreckliches lag in dem Gedanken, dass sie der letzte Abglanz aus der Welt der Leidenschaft für die wilde Seele war, die einen aus dem hämisch blickenden, grimmigen Gesicht des alten Mannes anzusehen schien. Es fiel mir jedoch auf, dass sie irgendein musikalisches Instrument in der Hand hielt – eine Gitarre oder eine Mandoline. Das war vielleicht das Geheimnis ihrer Macht über ihn.

Als Herr Burns diese Photographie sah, wusste er, warum das Schiff, das doch bereits gelöscht hatte, drei Wochen lang in einem verpesteten, erstickend heißen Hafen schmoren musste. Die Mannschaft lag erschöpft da und schnappte nach Luft. Bei den flüchtigen Besuchen, die der Kapitän hin und wieder dem Schiff abstattete, brummte er Herrn Burns etwas von Briefen vor, auf die er angeblich wartete.

Plötzlich, nachdem er sich acht Tage nicht hatte sehen lassen, kam er mitten in der Nacht an Bord und brachte das Schiff bei Morgengrauen in See. Das Tageslicht zeigte, wie verstört und krank er aussah. Für das bloße Freikreuzen von Land brauchte man zwei Tage, und auf irgendeine Weise streiften sie – Gott weiß wie – dabei ein Riff. Glücklicherweise hatte es kein Leck gegeben, und der Kapitän, nachdem er „Es tut nichts“ gebrummt hatte, teilte Herrn Burns mit, dass er sich entschlossen habe, das Schiff nach Hong-Kong ins Trockendock zu bringen.

Herr Burns geriet bei dieser Nachricht in Verzweiflung. Denn wirklich bis nach Hong-Kong gegen einen heftigen Monsun anzuarbeiten mit einem Schiff, das nicht hinreichend geballastet war und den Wasservorrat nicht aufgefüllt hatte, war ein wahnsinniges Vorhaben.

Aber der Kapitän knurrte entschlossen: „Wir halten durch!“ und Herr Burns – Wut und Verzweiflung im Herzen – hielt durch, bis die Lieken platzten, die Spieren beinahe brachen und die Mannschaft vollständig herunterkam, während er selbst fast wahnsinnig wurde durch die felsenfeste Überzeugung, dass alles doch umsonst war und sicher mit irgendeiner furchtbaren Katastrophe enden würde.

Unterdessen saß der Kapitän eingeschlossen in seiner Kajüte, in eine Ecke seines Sofas eingekeilt, um einen Halt vor den verrückten Sprüngen seines Schiffes zu haben und spielte auf seiner Geige – oder machte wenigstens ununterbrochen Lärm darauf.

Wenn er an Deck erschien, sprach er kein Wort und antwortete nicht einmal immer, wenn man ihn anredete. Es war ihm anzumerken, dass er an irgendeiner mysteriösen Krankheit litt und dass es mit ihm zu Ende ging.

Mit jedem Tage wurden die Klänge der Geige schwächer, bis endlich nur ein leises Kratzen an das Ohr von Herrn Burns gelangte, wenn er in der Messe stand und an der Kajütentür horchte.

Eines Nachmittags stürzte er in heller Verzweiflung in diese Kajüte und machte eine entsetzliche Szene – raufte sich das Haar vor Wut – und brüllte so fürchterliche Verwünschungen, dass es ihm gelang, den trotzigen Geist des Kranken zu beugen. Die Wasserbehälter waren schon fast leer, sie hatten in vierzehn Tagen kaum fünfzig Meilen geschafft. Hong-Kong würden sie nie und nimmer erreichen.

Es war ein verzweifeltes Ringen des Schiffes und der Mannschaft mit der Vernichtung. Soviel war klar, ohne dass es ausführlicher Erörterungen bedurft hätte. Herr Burns verlor alle Selbstbeherrschung, und sein Gesicht ganz dicht an dem des Kapitäns, kreischte er förmlich: „Sie verlassen jetzt diese Welt, Kapitän. Aber ich kann doch nicht warten, bis Sie tot sind, ehe ich den Kurs ändere! Sie müssen es selbst tun! Und zwar sofort!“

Der Mann auf dem Sofa knurrte verächtlich:

„So? Ich verlasse diese Welt, meinen Sie?“

„Ja, Kap’tän – Ihre Tage sind gezählt“, erklärte Herr Burns ruhiger werdend. „Man kann es Ihnen am Gesicht ansehen.“

„Am Gesicht, ja? ... Nun, ändern Sie meinetwegen den Kurs und scheren Sie sich zum Teufel!“

Burns stürzte an Deck, änderte den Kurs, brachte das Schiff vor den Wind, dann kam er wieder hinunter, gefasst, aber entschlossen.

„Ich habe den Kurs auf Pulo Condor abgesetzt, Kap’än“, sagte er. „Wenn wir das erreichen und Sie noch bei uns sind, werden Sie mir sagen, nach welchem Hafen ich das Schiff bringen soll, und ich werde es tun.“

Der Alte warf ihm einen boshaften, wütenden Blick zu und sagte langsam und mit giftigem Ausdruck jene abscheulichen Worte:

„Wenn es nach mir ginge, würden weder das Schiff noch ein einziger von euch jemals einen Hafen erreichen. Und ich hoffe, es wird euch nie gelingen.“

Herr Burns war äußerst entsetzt. Ich glaube, er war im Moment förmlich erschrocken. Anscheinend aber gelang es ihm zu lachen, und zwar so wirkungsvoll, dass es nun an dem Alten war, zu erschrecken. Er kroch in sich zusammen und wandte ihm den Rücken.

„Und damals hatte er seinen Verstand noch“, versicherte mir Herr Burns erregt. „Es war sein vollster Ernst.“

So ungefähr lauteten die letzten Worte des vorigen Kapitäns. Danach kam kein zusammenhängender Satz mehr über seine Lippen. In dieser Nacht benützte er die ihm noch gebliebene Kraft, um seine Fiedel über Bord zu werfen. Niemand hatte es zwar gesehen, aber nach seinem Tode konnte Herr Burns das Ding nirgends finden. Der leere Geigenkasten war unleugbar da, aber die Fiedel war nicht auf dem Schiff. Wo könnte sie sonst sein, wenn nicht über Bord?

„Seine Geige über Bord geworfen?“ rief ich.

„Jawohl“, erwiderte Herr Burns aufgeregt. „Und ich bin felsenfest überzeugt, dass er das Schiff mit auf den Meeresgrund genommen hätte, wenn es menschenmöglich gewesen wäre. Er wollte das Schiff niemals wieder in einen Hafen bringen. Er wollte auch nicht an die Reeder schreiben, an seine alte Frau schrieb er ebenfalls nicht – es fiel ihm gar nicht ein! Er hatte sich entschlossen, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Das war es. Für Geschäfte oder Ladungen oder Seefahrten oder dergleichen interessierte er sich nicht im Geringsten. Es war seine Absicht, auf den Meeren umherzuirren, bis das Schiff mit allem an Bord unterging.“

Herr Burns sah aus wie ein Mann, der großer Gefahr entronnen war. Es fehlte nicht viel, und er hätte ausgerufen: „Wenn ich nicht gewesen wäre!“ Die durchsichtige Naivität, die aus seinen entrüsteten Augen leuchtete, stand in drolligem Kontrast zu dem frechen Schnurrbart, den er in horizontaler Richtung drehte, als ob er ihn verlängern wollte.

Ich hätte vielleicht gelächelt, wenn meine Empfindungen – die ganz anderer Art waren als die des Herrn Burns – mich nicht zu sehr in Anspruch genommen hätten. Die Kommandogewalt lag bereits in meinen Händen. Meine Gefühle konnten also schon darum nicht denen irgendeines anderen Mannes an Bord gleichen. In dieser Gemeinschaft war ich wie ein König in seinem Lande, in einer Klasse für mich. Ich meine, einen König durch Erbschaft und nicht ein bloß gewähltes Staatsoberhaupt. Die Herrschaft war mir durch eine Macht übertragen worden, die der Schiffsmannschaft so fremd und unerforschlich erscheinen musste, wie das Gottesgnadentum.

Und als wäre ich ein Mitglied einer Dynastie, fühlte ich mich durch ein halb mystisches Band mit dem Toten verbunden und war tief erschüttert über meinen unmittelbaren Vorgänger.

Der Mann war in allem Wesentlichen – sein Alter ausgenommen – genau dasselbe gewesen wie ich. Und doch war sein Lebensende der reinste Verrat – ein Treubruch an einer Überlieferung, die mir ebenso zwingend erschien, wie irgendeine andere auf Erden. Anscheinend konnte selbst auf hoher See ein Mann von bösen Geistern heimgesucht werden. Ich spürte auf meinem Gesicht den Hauch von unbekannten Mächten, die unser Schicksal gestalten.

Damit das Schweigen nicht zu lange dauerte, fragte ich Herrn Burns, ob er an die Frau seines Kapitäns geschrieben hätte. Er schüttelte den Kopf. Er habe an niemand geschrieben.

Sofort verfinsterte sich sein Gesicht. Er hatte nicht daran gedacht, zu schreiben. Außerdem habe er alle Hände voll zu tun gehabt, um dem schurkenhaften chinesischen Staumeister beim Laden des Schiffes auf die Finger zu sehen. Durch diese Worte gab mir Herr Burns zum ersten Mal einen Einblick in seine wirkliche Steuermannsseele, die so unruhig in seinem Körper wohnte.

Er überlegte, dann fuhr er mit düsterer Kraft fort:

„Ja! Der Kapitän starb kurz vor zwölf Uhr mittags. Am Nachmittag sah ich seine Papiere durch. Beim Sonnenuntergang hielt ich die Totenandacht für ihn, und dann brachte ich das Schiff auf Nordkurs und hierher. Ich – brachte – es – in diesen Hafen!"

Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Von selbst hätte es ja auch kaum hereinkommen können“, bemerkte ich. „Aber warum sind Sie nicht nach Singspore gegangen?“

Seine Augen flackerten. „Es war der nächste Hafen“, murmelte er mürrisch.

Ohne mir etwas dabei zu denken, hatte ich diese Frage gestellt, aber seine Antwort (der Unterschied der Entfernung war ja so geringfügig) und sein Benehmen ließen mich den wahren Grund erkennen. Er brachte das Schiff nach jenem Hafen, weil er annehmen konnte, dass man ihn aus Mangel an einem geeigneteren Führer bei diesem provisorischen Posten belassen würde, während es in Singspore, wie er richtig vermutete, reichlich geeignete Führer geben würde. Aber in seiner Naivität hatte er das Kabel außer Betracht gelassen, das auf dem Meeresgrund in demselben Golf ruhte, in den er das Schiff, das er vor dem Untergang gerettet zu haben meinte, gebracht hatte. Daher der bittere Beigeschmack unserer Unterhaltung. Ich spürte ihn immer deutlicher – und immer weniger war er nach meinem Geschmack.

„Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Burns“, begann ich sehr streng. „Sie müssen wissen, dass ich mich nicht um dieses Kommando gerissen habe. Es wurde mir aufgedrängt, und ich nahm es an. Ich bin hier, um das Schiff vor allen Dingen heimzubringen. Sie können sich darauf verlassen, um diesen Zweck zu erreichen, werde ich dafür sorgen, dass jeder einzelne an Bord hier seine Pflicht tut. Das ist alles, was ich – vorläufig – zu sagen habe.“

Herr Burns war inzwischen aufgestanden, aber anstatt zu gehen, blieb er mit zitternden, entrüsteten Lippen stehen und starrte mich an, als dächte er, es bliebe mir anstandshalber nun nichts anderes übrig, als seinen gröblich beleidigten Augen zu entschwinden. Wie alle etwas primitiven Gefühlsäußerungen, wirkte es ergreifend. Ich empfand Mitleid mit ihm – fast Mitgefühl – bis er – nachdem er sah, dass ich nicht entschwand – in einem Ton gezwungener Zurückhaltung bemerkte:

„Sie können mir glauben, wenn ich nicht Frau und Kind zu Hause hätte, würde ich Sie sofort, als Sie an Bord kamen, gebeten haben, mich gehen zu lassen.“

Ich antwortete ihm mit ruhiger Selbstverständlichkeit, als handle es sich um irgendeine dritte, ganz fremde Person

„Und ich, Herr Burns, hätte Sie nicht gehen lassen. Sie haben als Erster Steuermann die Musterrolle unterschrieben und ich erwarte, dass Sie, bis wir den endgültigen Bestimmungshafen erreichen, Ihre Pflicht weiter erfüllen und mir nach besten Kräften mit Ihrer Erfahrung zur Seite stehen werden.“

Steinerne Ungläubigkeit lag noch in seinen Blicken, aber sie wich vor meiner freundlichen Haltung. Er warf die Arme leicht in die Höhe (diese Geste wurde mir später sehr vertraut) und stürzte aus der Kajüte.

Wir hätten uns diese kleine harmlose Plänkelei ersparen können. Wenige Tage danach war es Herr Burns, der mich flehentlich bat, ihn nicht zurückzulassen, während ich ihm nur ausweichende Antworten geben konnte. Die ganze Angelegenheit nahm einen etwas tragischen Charakter an.

Und dabei war dieses furchtbare Problem nur eine nebensächliche Episode, eine bloße Komplikation des einzigen großen Problems, wie man die Mannschaft, dieses Schiff, das mit allem, was darauf war, mir gehörte, dessen Leib und Seele noch in diesem verpesteten Fluss schlummerte – aus dem Hafen auf die See hinaus bekommen konnte.

Als Herr Burns stellvertretender Kapitän gewesen war, hatte er ein Ladedokument unterzeichnet, das in einer idealen Welt ohne Arglist ein vorzügliches Abkommen gewesen wäre. Sowie ich es durchgelesen hatte, wusste ich schon, dass es Verdruss geben würde, wenn die andere Partei nicht ganz besonders ehrliche und einsichtsvolle Leute wären.

Herr Burns, dem ich meine Befürchtungen mitteilte, nahm es mir sehr übel. Er starrte mich mit seinem gewöhnlichen ungläubigen Blick an und sagte erbittert:

„Sie wollen mir wohl damit sagen, dass ich sehr dumm gehandelt habe?“

Ich sagte ihm mit der Freundlichkeit, die ich mir ihm gegenüber zur Regel gemacht hatte und die sein Erstaunen über mich immer mehr zu steigern schien, dass ich gar nichts damit hätte sagen wollen. Das überließe ich der Zukunft.

Und richtig, die Zukunft brachte recht viel Verdruss. Es gab Tage, an denen ich kaum anders als mit Abscheu an Kapitän Giles denken konnte. Seine verwünschte Schlauheit hatte mir diese Geschichte eingebrockt, und die Erfüllung seiner Prophezeiung, dass ich „alle Hände voll zu tun bekommen würde“, gab den Anschein, als hätte er alles absichtlich getan, um meiner jugendlichen Unschuld einen bösen Streich zu spielen.

Ja, ich hatte alle Hände voll zu tun mit Komplikationen, die als „Erfahrung“ außerordentlich wertvoll waren. Die Menschen halten sehr viel von dem Vorteil, den Erfahrung bringt. Aber in diesem Zusammenhang bedeutet Erfahrung stets etwas recht Unangenehmes gegenüber dem Zauber und der Unschuld der Illusionen.

Ich muss sagen, ich war im Begriff, die meinen sehr schnell zu verlieren. Aber über alle diese lehrreichen Komplikationen will ich mich nicht weiter auslassen, sondern mich begnügen zu sagen, dass sie alle in einem Wort zusammengefasst werden könnten: Zeitverlust.

Eine Menschheit, die das Sprichwort „Zeit ist Geld“ erfunden hat, wird meinen Ärger verstehen. Das Wort „Zeitverlust“ drang in die geheimste Kammer meines Gehirns ein, wo es, den Klängen einer entnervenden Totenglocke gleich, widerhallte, auf meine Sinne einwirkte, so dass alles eine düstere Färbung, einen bitteren Geschmack, eine unheilvolle Bedeutung annahm.

„Es tut mir sehr leid, Sie so vergrämt zu sehen. Außerordentlich leid, wirklich...“

Das waren die einzigen menschenfreundlichen Worte, die ich damals zu hören bekam. Und es war, bezeichnend genug, ein Arzt, der sie aussprach.

Ein Arzt ist seiner Bestimmung nach ein Menschenfreund, aber dieser Mann war es tatsächlich. Seine Worte waren nicht beruflich gesprochen. Ich war nicht krank. Aber die Mannschaft war es, und darum besuchte er unser Schiff.

Es war der Gesandtschaftsarzt und natürlich auch der des Konsulats. Er sah nach dem Befinden der Mannschaft, das meistens kläglich war, sie schwebten gleichsam am Rande eines Zusammenbruchs. Ja, die Mannschaft kränkelte. In diesem Falle bedeutete daher Zeit nicht nur Geld, sondern auch das Leben.

Ich hatte noch niemals eine so vernünftige Mannschaft gesehen. Der Arzt sagte auch zu mir: „Sie scheinen eine höchst anständige Gesellschaft von Seeleuten zu haben.“ Nicht allein, dass sie niemals tranken, wollten sie nicht einmal an Land gehen. Ich sorgte dafür, dass man sie so wenig wie möglich der Sonne aussetzte. Es wurde ihnen nur leichte Arbeit gegeben, die sie unter dem Schutze der Sonnensegel ausführten. Der menschenfreundliche Arzt lobte mich.

„Ihre Anordnungen erscheinen mir sehr verständig, mein lieber Kapitän.“

Ich kann gar nicht sagen, wie mich diese Worte trösteten. Das volle, runde, von einem hellblonden Backenbart umrahmte Gesicht des Arztes war die Würde und die Liebenswürdigkeit selbst. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der sich etwas für mich zu interessieren schien. Bei jedem Besuch pflegte er sich meistens ein halbes Stündchen zu mir in die Kajüte zu setzen.

Eines Tages sagte ich zu ihm:

„Ich kann wohl nichts weiter für sie tun, als sie einfach so weiter zu behandeln wie Sie, bis ich das Schiff in See bringen kann?“

Er neigte den Kopf, schloss die Augen hinter der großen Brille und murmelte:

„Die See ... ja, gewiss.“

Der erste der Mannschaft, der wirklich ernstlich gepackt wurde, war der Steward – der erste meiner Leute, mit dem ich gesprochen hatte, als ich an Bord kam. Er wurde an Land geschafft (Cholera-Symptome hatten sich gezeigt) und starb dort innerhalb acht Tagen. Während ich noch unter dem niederschmetternden Eindruck dieses ersten empfindlichen Schlages des Klimas stand, klappte Herr Burns zusammen und legte sich, ohne jemand ein Wort zu sagen, mit hohem Fieber ins Bett.

Ich glaube, er hatte sich die Krankheit teils durch Ärger zugezogen, und das Klima tat das übrige mit der Schnelligkeit eines unsichtbaren Ungeheuers, das im Hinterhalt lauerte, in der Luft, im Wasser, im Schlamm des Flussufers. Herr Burns war ein prädestiniertes Opfer.

Als ich ihn entdeckte, lag er auf dem Rücken, starrte finster vor sich hin, und es strahlte eine Hitze von ihm aus, als wäre er ein kleiner Hochofen. Er beantwortete meine Fragen kaum und brummte nur: „Kann denn ein Mensch sich nicht ausnahmsweise mal einen dienstfreien Nachmittag nehmen, wenn er so fürchterliche Kopfschmerzen hat?“

Als ich abends nach dem Essen in der Messe saß, konnte ich ihn in seiner Kammer hören, wie er fortwährend vor sich hin murmelte. Ransome, der den Tisch abräumte, sagte zu mir:

„Ich fürchte, ich werde mich um den Ersten Steuermann nicht so viel kümmern können, wie es wahrscheinlich nötig sein wird, denn ich muss meistens vorn in der Küche sein.“

Ransome war der Koch. Herr Burns hatte mich am ersten Tag auf ihn aufmerksam gemacht, als er, die Arme auf der breiten Brust gekreuzt, an Deck stand und auf den Fluss schaute.

Selbst von weitem fiel er durch seine wohlproportionierte Gestalt, durch das typisch Seemännische in seiner Haltung auf. Sah man ihn sich näher an, so wirkten die klugen, ruhigen Augen, das feine Gesicht, die disziplinierte Unabhängigkeit in seinem Wesen äußerst sympathisch. Als ich obendrein von Herrn Burns hörte, dass er der beste Seemann an Bord sei, drückte ich mein Erstaunen aus, dass ein Mann wie er – in den besten Jahren und mit einer solchen Erscheinung – als Schiffskoch fuhr.

„Wegen seines Herzens“, hatte Herr Bums erwidert. „Es ist nicht ganz intakt. Er darf sich nicht zu sehr anstrengen, sonst kann er plötzlich tot umfallen.“

Und er war der einzige, den das Klima nicht berührt hatte – vielleicht weil er wegen des todbringenden Feindes, den er in der Brust trug, gelernt hatte, sich ständig in allen seinen Gefühlen und Bewegungen zu beherrschen. Wenn man in sein Geheimnis eingeweiht war, merkte man es ihm an. Als der arme Steward starb, hatte sich Ransome erboten, beide Posten zu übernehmen, da kein weißer Steward in diesem orientalischen Hafen aufzutreiben war.

„Ich kann es ganz gut leisten, Kap’tän, solange ich alles in Ruhe mache“, hatte er mir versichert.

Aber offensichtlich konnte man ihm nicht noch Krankenpflege zumuten. Im Übrigen hatte der Arzt den strikten Befehl gegeben, Herrn Burns an Land zu schaffen.

Von zwei Matrosen gestützt, schritt der Erste Steuermann über das Fallreep, mürrischer als je.

Im Wagen betteten wir ihn auf Kissen, und er machte eine gewaltige Anstrengung um stockend hervorzustoßen:

„Jetzt – haben Sie – erreicht –, was Sie wollten –, haben mich – aus dem Schiff – herausgebracht.“

„Sie haben sich in Ihrem ganzen Leben noch nie so gründlich geirrt, Herr Burns“, erwiderte ich ruhig und lächelte ihn wie immer an. Der Wagen fuhr mit ihm davon nach einer Art Sanatorium, einem Pavillon aus Ziegelsteinen, der in dem Garten des Arztes lag.

Ich besuchte Herrn Burns regelmäßig. Die ersten Tage erkannte er niemand, aber nachher empfing er mich entweder, als wäre ich gekommen, um über einen am Boden liegenden Feind zu triumphieren oder um die Gunst eines Menschen zu gewinnen, dem ich ein schreiendes Unrecht zugefügt hatte. Es war immer die eine oder die andere Stimmung, je nach der überreizten Laune des Kranken. Welche es auch sein mochte, er bekam es fertig, sie mich fühlen zu lassen, selbst zu den Zeiten, als er fast zu schwach schien, um überhaupt zu sprechen. Ich behandelte ihn jedoch mit der gleichen unveränderten Freundlichkeit.

Dann brach plötzlich eines Tages durch all diese Verrücktheit eine wahre Sturzwelle panikartiger Angst hervor.

Wenn ich ihn in diesem furchtbaren Ort zurückließe, würde er sterben. Das fühle er, davon sei er fest überzeugt. Aber ich würde es nicht übers Herz bringen, ohne ihn abzufahren. Er habe ja Weib und Kind in Sydney.

Er zog seine abgezehrten Arme unter der Decke hervor und faltete die mageren Hände. Er würde sterben! Er würde hier sterben ...

Es gelang ihm sogar, sich aufzurichten, aber nur einen Augenblick, und als er zurückfiel, dachte ich, er würde auf der Stelle sterben. Ich rief den bengalischen Sanitäter herbei und eilte aus dem Zimmer.

Am folgenden Tag brachte er mich vollends aus der Fassung, als er wieder zu bitten begann. Ich gab ihm eine ausweichende Antwort und verließ ihn, der ein Bild der furchtbarsten Verzweiflung war. Am nächsten Tage ging ich nur sehr ungern zu ihm, und sofort griff er mich mit einer viel kräftigeren Stimme an und brachte geradezu niederschmetternde Argumente hervor. Mit einer Art irrsinniger Energie hielt er mir seine Lage vor, und zum Schluss fragte er mich, ob ich den Tod eines Menschen auf dem Gewissen haben möchte. Ich sollte ihm versprechen, dass ich nicht ohne ihn abfahren würde.

Ich sagte. dass ich unbedingt erst den Arzt konsultieren müsse. Darüber war er außer sich. Den Arzt! Niemals! Das würde sein Todesurteil sein!

Die Anstrengung hatte ihn erschöpft. Er schloss die Augen, aber mit leiser Stimme redete er nun unzusammenhängende Worte. Ich hätte ihn von Anfang an gehasst. Der vorige Kapitän hätte ihn auch gehasst. Hätte seinen Tod gewünscht. Hätte den Tod der ganzen Mannschaft gewünscht ...

„Wieso wollen Sie gemeinsame Sache mit jenem gottlosen Toten machen, Kap’tän? Er wird Sie auch noch zu sich hinunterziehen“, schloss er und blinzelte mich mit verglasten Augen an.

„Herr Burns,“ rief ich entsetzt, „wovon in aller Welt reden Sie?“

Er schien zu sich zu kommen, obwohl er zu schwach war, zusammenzufahren.

„Ich weiß nicht“, sagte er matt. „Aber fragen Sie ja nicht den Arzt. Wir beide sind Seeleute, Kap’tän. Fragen Sie ihn nicht. Eines Tages werden Sie vielleicht auch Frau und Kind haben.“'

Und wieder bettelte er um mein Versprechen, ihn nicht zurückzulassen. Ich hatte die Willensstärke, es ihm nicht zu geben. Nachher schien mir diese Strenge ein Verbrechen, denn ich hatte schon meinen Entschluss gefasst. Dieser von Krankheit niedergestreckte Mann, der kaum die nötige Kraft zum Atmen hatte, dessen Seele von einer sinnlosen Angst gepeinigt wurde, war unwiderstehlich. Überdies hatte er gerade das richtige Wort getroffen. Wir waren beide Seeleute. Da war es, wo er mich packen konnte, denn eine andere Familie hatte ich nicht. Das Argument, Frau und Kind eines Tages zu haben, ließ mich ganz kalt. Höchstens grotesk schien es mir.

Ich konnte mir keinen stärkeren und keinen verpflichtenderen Anspruch vorstellen als den dieses Schiffes, dieser Männer, die durch dumme geschäftliche Schwierigkeiten auf diesem Fluss wie in einer giftigen Falle gefangen saßen.

Ich hatte jedoch den Weg ins Freie schon fast erkämpft. Hinaus aufs Meer! Das Meer, das rein, gesund und uns freundlich gesinnt war! Nur noch drei Tage!

Dieser Gedanke hielt mich aufrecht und beflügelte meinen Schritt auf dem Rückweg zum Schiff. In der Messe begrüßte mich die Stimme des Arztes, und seine große Gestalt folgte gleich seiner Stimme, als er aus der Steuerbord-Reservekajüte heraustrat, wo der Arzneikasten des Schiffes fest angezurrt seinen Platz hatte.

Als er mich nicht an Bord fand, war er dort hineingegangen, sagte er, um sich den Vorrat an Arzneien, Bandagen und so weiter anzusehen. Das Fehlende sei nun ergänzt und alles in Ordnung.

Ich dankte ihm; gerade hätte ich ihn darum bitten wollen, weil wir, wie er wusste, in ein paar Tagen in See gehen wollten, wo alle unsere Leiden endlich aufhören würden.

Ohne zu antworten, hörte er mit ernster Miene zu. Aber als ich ihm meine Absicht mitteilte, Herrn Bums mitzunehmen, setzte er sich zu mir, und die Hand freundschaftlich auf mein Knie legend, bat er mich, zu überlegen, was ich mir damit auflade.

Der Mann war gerade kräftig genug, um den Transport ertragen zu können, aber das war auch alles. Einen Rückfall würde er nicht mehr aushalten. Ich hatte eine Fahrt von vielleicht sechzig Tagen vor mir, die mit prekärer Navigation anfangen und wahrscheinlich mit sehr schlechtem Wetter enden würde. Konnte ich das Risiko auf mich nehmen, das alles allein zu bewältigen ohne Ersten Steuermann und mit einem Zweiten, der noch ein halbes Kind war? ...

Er hätte hinzufügen können, dass es außerdem mein erstes Kommando als Kapitän sei. Dieser Gedanke kam ihm wahrscheinlich auch, denn er unterbrach sich. Mich beschäftigte er stets.

Er riet mir dringend, nach Singapore zu kabeln, um einen Ersten Steuermann auszubitten, selbst wenn ich die Abfahrt um acht Tage hinausschieben müsste.

„Nicht einen Tag“, erklärte ich. Der bloße Gedanke daran ließ mich schaudern. Die Mannschaft schien jetzt leidlich hergestellt zu sein, und man wusste den Moment benutzen, um sie aus diesem Hafen herauszubringen. Einmal auf offener See, war mir vor nichts mehr bange. Die See war jetzt das einzige Heilmittel für alle meine Leiden.

Die Brillengläser des Arztes waren auf mich gerichtet wie zwei Lampen, die die Lauterkeit meines Entschlusses zu ergründen suchten. Er öffnete den Mund, als wollte er weiter mit mir disputieren, aber er schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Ich sah den armen Burns so deutlich vor mir in seiner Erschöpfung, seiner Hilflosigkeit und seiner Seelenpein, dass die Erinnerung daran mich eigentlich mehr bewegte, als es die Wirklichkeit vor einer Stunde getan hatte. Die Entfernung hatte sie von den Schattenseiten seiner Persönlichkeit befreit, und ich konnte ihr nicht widerstehen.

„Hören Sie“, sagte ich. „Wenn Sie mir nicht als Arzt offiziell erklären, dass der Mann transportunfähig ist, will ich die nötigen Anordnungen geben, um ihn morgen an Bord schaffen zu lassen, und das Schiff am folgenden Morgen aus dem Fluss hinausbringen, selbst wenn ich ein paar Tage außerhalb der Barre vor Anker liegen muss, um das Schiff seeklar zu machen.“

„Die nötigen Anordnungen werde ich schon selbst treffen“, erklärte der Arzt sofort. „Ich sprach nur als Freund, der Ihr Bestes will, in diesem Sinne, wissen Sie.“

Er erhob sich in seiner ganzen würdevollen Schlichtheit und schüttelte mir sehr herzlich und, wie mir schien, etwas feierlich die Hand. Aber er hielt Wort. Als die Krankenbahre mit Herrn Burns am Fallreep auftauchte, schritt der Arzt neben ihr her. Das Programm war insofern geändert worden, als der Krankentransport erst im letzten Moment stattfand, am Abfahrtsmorgen selbst.

Es war eine knappe Stunde nach Sonnenaufgang. Der Arzt winkte mir mit seinem langen Arm vom Ufer aus zu und ging dann langsam zurück an seinen Wagen, der ihm bis zum Hafen nachgefahren war. Als Herr Burns über das Quarterdeck getragen wurde, schien er ganz leblos. Ransome ging hinunter, um ihn in seiner Koje unterzubringen. Ich musste an Deck bleiben, um nach dem Schiff zu sehen, denn der Schlepper hatte uns schon auf den Haken genommen.

Das Klatschen der los geworfenen und ins Wasser fallenden Festmacheleinen rief einen vollkommenen Umschwung in meiner Stimmung hervor. Sie glich der noch nicht ganz restlosen Erleichterung, die man beim Erwachen nach einem schweren Traum empfindet. Als das Schiff von der orientalischen und schmutzigen Stadt weg den Fluss hinunterfuhr, vermisste ich das erwartete Hochgefühl dieses so heiß ersehnten Augenblicks. Das, was ich unzweifelhaft empfand, war eine Entspannung, die sich in einem Gefühl von Müdigkeit auslöste wie nach einem unrühmlichen Kampf.

Gegen Mittag gingen wir außerhalb der Barre vor Anker. Am Nachmittag hatte die Mannschaft vollauf zu tun. Während ich die Arbeit von der Schanze aus beobachtete, wo ich die ganze Zeit blieb, bemerkte ich noch an den Leuten etwas von der Mattigkeit der sechs Wochen, die wir in der dampfenden Hitze des Flusses zugebracht hatten.

Die erste Seebrise würde das schon wegwehen. Augenblicklich war vollkommene Windstille. Der Steuermann – ein unreifer, unerfahrener Jüngling mit einem nicht sehr viel versprechenden Gesicht – war meiner Ansicht nach – milde ausgedrückt – nicht aus jenem unschätzbaren Stoff gemacht, wie man sich die rechte Hand eines Kapitäns vorstellt. Aber ich freute mich, ab und zu einmal ein Lächeln auf den Seemannsgesichtern zu erhaschen, diesen Gesichtern, die ich noch gar nicht Zeit gehabt hatte, mir richtig anzusehen. Nachdem ich nun die lästigen Landangelegenheiten erledigt hatte, fühlte ich mich mit diesen Männern vertraut und doch etwas fremd, wie ein lang verschollener Wanderer unter den Seinen.

Ransome eilte ständig zwischen Küche und Kajüte hin und her. Es war eine Freude, ihn anzusehen. Der Mann hatte tatsächlich Grazie. Er war der einzige unter der Mannschaft, der während unseres Aufenthaltes im Hafen nicht einen Tag krank gewesen war... Aber da ich von dem ruhelosen Herzen in seiner Brust wusste, konnte ich den Zwang merken, den er sich bei der natürlichen seemännischen Behändigkeit seiner Bewegungen auferlegte, als müsse er etwas sehr Zerbrechliches oder leicht Entzündbares mit sich herumtragen und wäre sich dessen stets bewusst.

Ich hatte Gelegenheit, ihn ein- oder zweimal anzusprechen. Er antwortete mir mit seiner ruhigen, angenehmen Stimme und mit einem flüchtigen, etwas wehmütigen Lächeln. Allem Anschein nach schliefe Herr Burns. Er schiene sich ganz behaglich zu fühlen.

Nach Sonnenuntergang ging ich wieder an Deck, wo ich nur eine regungslose Stille vorfand. Die feine, schmale Linie der Küste war nicht zu erkennen. Die Dunkelheit war rings um das Schiff aufgestiegen, als wäre sie eine geheimnisvolle Ausströmung der stummen und einsamen Wasser. Ich stützte mich auf die Reling und wandte mich lauschend den Schatten der Nacht zu. Kein Laut. Mein Schiff hätte ein Planet sein können, der wirbelnd auf seiner vorgeschriebenen Bahn in einem Raum unendlichen Schweigens dahinflog. Ich klammerte mich an die Reling an, als verlöre ich meinen Gleichgewichtssinn auf immer. Wie lächerlich! Nervös rief ich:

„Heda, an Deck!“

Die unmittelbar erfolgende Antwort: „Jawohl, Kap’tän“, brach den Bann. Der Mann der Ankerwache lief flink die Treppe zur Schanze hinauf. Ich sagte ihm, er solle mir sogleich Nachricht bringen, wenn er das geringste Zeichen einer aufkommenden Brise bemerke.

Ich ging dann hinunter, um nach Herrn Burns zu schauen. Ich hätte in der Tat es nicht vermeiden können, ihn zu sehen, denn seine Tür stand offen. Er war so abgezehrt, dass von ihm in der weißen Kajüte unter dem weißen Bettuch, von dem in den weißen Kissen versunkenen, ganz klein gewordenen Kopf fast nichts mehr zu sehen war als der rote Schnurrbart – man hätte ihn für einen künstlichen Schnurrbart aus einem Schaufenster halten können, der dort in dem grellen Licht der schirmlosen Wandlampe ausgestellt lag.

Während ich mit Verwunderung auf ihn starrte, machte sich Burns dadurch bemerkbar, dass er die Augen öffnete und sie sogar zu mir hinschweifen ließ. Eine kaum merkliche Bewegung.

„Eine Totenflaute, Herr Burns“, sagte ich resigniert.

Mit einer erstaunlich deutlichen Stimme begann Herr Burns wirr zu reden. Der Klang seiner Stimme war sehr seltsam, nicht als wäre sie durch die Krankheit angegriffen, sondern sie hatte einen ganz anderen Ton – sie klang überirdisch. Aus seinen Worten glaubte ich herauszuhören, dass es die Schuld des „Alten“ – des verstorbenen Kapitäns – sei, der im Hinterhalt dort unten auf dem Meeresgrund mit bösen Absichten lauere. Es war eine unheimliche Geschichte.

Ich hörte ihm bis zum Ende zu, dann trat ich in die Kajüte und legte die Hand auf seine Stirn. Sie war kühl. Aus lauter Schwäche phantasierte er. Plötzlich schien er sich meiner Gegenwart bewusst zu werden, und mit seiner richtigen Stimme – natürlich sehr schwach – fragte er bekümmert:

„Ist keine Aussicht, dass wir abfahren können?“

„Was hätte es für einen Zweck, Anker zu lichten, um von der Strömung getrieben zu werden?“

Er seufzte, und ich überließ ihn seiner Unbeweglichkeit. Sein Verstand schien an einem ebenso feinen Faden zu hängen wie sein Leben. Meine Verantwortung und Einsamkeit bedrückten mich. Ich ging in meine Kajüte, um durch einige Stunden Schlaf Erleichterung zu suchen, aber kaum hatte ich die Augen geschlossen, als der Wachmann herunterkam und eine leichte Brise meldete. Ausreichend, um abfahren zu können, meinte er.

Es war aber auch wirklich nicht mehr als gerade ausreichend. Ich gab Befehl, das Spill zu mannen, ließ die Segel losmachen und die Topsegel setzen. Aber bis ich das Schiff gewendet hatte, war kaum noch ein Hauch von Wind zu spüren. Nichtsdestoweniger ließ ich die Rahen anbrassen und setzte jeden Fetzen Segel. Einen Versuch wollte ich wenigstens machen.

IV

Mit dem Anker vor der Klüse und in Leinwand gehüllt, schien mein Schiff so unbeweglich wie ein Modellfahrzeug, das sich in dem polierten Marmortisch, auf dem es steht, widerspiegelt. In der rätselhaften Stille der gewaltigen Kräfte des Weltalls war es unmöglich, das Land vom Wasser zu unterscheiden. Eine plötzliche Ungeduld erfasste mich.

„Will es denn gar nicht dem Ruder gehorchen?“ fragte ich ärgerlich den Mann, dessen starke braune Hände, welche die Steuerradspeichen festhielten, sich von der Dunkelheit leuchtend abhoben, ein Sinnbild der Menschheit in ihrem Anrecht, ihr Schicksal selbst zu lenken.

Er antwortete mir:

„Jawohl, Kap’tän, jetzt kommt’s langsam.“

„Bringen Sie das Schiff auf Süd.“

„Ay, ay, Kap’tän.“

Ich ging auf der Schanze auf und ab. Es war kein Laut zu hören, nur meine Schritte, bis der Rudergänger wieder sprach:

„Jetzt liegt Süd an, Kap’tän.“

Mir war ganz beklommen zumute, ehe ich zum ersten. mal als Kapitän in die schweigende Nacht hinaus einen Kurs befahl, in die tauschwere, von Sternengefunkel schimmernde Nacht. Es lag etwas Endgültiges in dieser Handlung, die mich zur unermüdlichen Wachsamkeit auf meinem einsamen Posten verpflichtete.

„Lassen Sie es genau anliegen“, sagte ich schließlich. „Kurs bleibt Süd!“

„Kurs ist Süd“, wiederholte der Mann.

Ich schickte den Zweiten Steuermann mit seinen Leuten hinunter und übernahm selbst die Wache; auf und ab gehend, verbrachte ich die frostigen, schlaf trunkenen Stunden, die der Morgendämmerung vorangehen.

Leichte Windstöße kamen und gingen, und jedes Mal wenn sie stark genug waren, das schwarze Wasser in Bewegung zu bringen, und ich das Murmeln längsseits vernahm, durchrieselte mich bis ans Herz ein zartes Crescendo des Entzückens, das aber rasch wieder schwand. Ich war todmüde. Selbst die Sterne schienen des Wartens auf den Sonnenaufgang müde zu sein. Schließlich aber kam er mit einem perlmutterfarbenen Schimmer am Zenit, wie ich ihn noch nie in den Tropen gesehen, glutlos, fast grau, seltsam an höhere Breitengrade erinnernd.

Die Stimme des Ausguckmanns erklang von vorn:

„Land backbord voraus!“

„Ist recht!“

Ich stand, die Arme auf die Reling gestützt, und erhob nicht einmal die Augen. Es war kaum zu merken, dass sich das Schiff überhaupt bewegte. Nach einer Weile brachte mir Ransome meine allmorgendliche Tasse Kaffee. Als ich sie ausgetrunken hatte, schaute ich voraus und sah, wie das Land sich silhouettenhaft gegen den ruhig leuchtenden Streifen blassorangefarbenen Lichtes abhob und auf dem Wasser leicht wie ein Korken zu schwimmen schien. Aber die aufgehende Sonne verwandelte es in bloßen schwarzen Dunst, in einen ungewissen massiven Schatten, der in dem blendenden, weiß glühenden Licht zitterte.

Die Wache beendete gerade das Deckwaschen. Ich ging hinunter und blieb vor Herrn Burns’ Tür stehen (er konnte es nicht leiden, dass sie zugemacht wurde), aber ich zögerte, ihn anzureden, ehe er die Augen öffnete. Ich erzählte ihm die letzten Geschehnisse.

„Kap Liant bei Sonnenaufgang gesichtet. Ungefähr fünfzehn Meilen geschafft.“

Darauf bewegte er die Lippen, aber ich hörte keinen Laut, erst als ich mich zu ihm herabbeugte, vernahm ich die verdrießliche Bemerkung: „Das ist... ja gekrochen... Kein Glück...“

„Jedenfalls besser als still zu liegen“, erklärte ich ihm resigniert und überließ ihn dann den Gedanken oder Phantasien, die ihn auf seinem trostlosen Krankenlager beschäftigten.

Später an diesem Vormittage, als mein Zweiter Steuermann mich ablöste, warf ich mich auf meine Chaiselongue und fand wirklich während ungefähr drei Stunden Vergessen. Es war so vollkommen, dass ich beim Erwachen im ersten Augenblick nicht wusste, wo ich war. Dann kam die unendliche Erleichterung des Gedankens: „An Bord meines Schiffes! In See! Endlich in See!“

Durch die Bullaugen erblickte ich ein bis zum Horizont glattes und besonntes Meer, das Meer eines windstillen Tages. Aber schon seine Weite gab mir das Glücksgefühl, einer Gefahr entronnen zu sein, und versetzte mich in einen Augenblick langen Freiheitsrausch.

Als ich die Messe an diesem Morgen betrat, war mein Herz leichter, als es seit Tagen gewesen. Ransome stand am Büfett und war im Begriff, den Tisch für unser erstes Mittagessen auf dieser Fahrt zu decken. Er wandte den Kopf, und etwas in seinen Augen dämpfte meine bescheidene Freude.

Instinktiv fragte ich: „Was ist nun los?“ und erwartete nicht im geringsten die Antwort, die ich erhielt. Er erwiderte mit der gefassten, ruhigen Heiterkeit, die so charakteristisch an ihm war:

„Ich fürchte, wir haben die Krankheit noch nicht ganz überwunden, Kap’tän.“

„Nein?! Was gibt’s denn?“

Er erzählte mir, dass zwei unserer Leute in der Nacht vom Fieber gepackt worden seien. Der eine glühte jetzt, und der andere fror, aber er meinte, das käme wohl auf eins heraus. Das glaubte ich auch. Ich war von der Nachricht wie erschlagen. „Einer glüht, und der andere friert, sagten Sie? Nein, dann haben wir allerdings die Krankheit noch nicht überwunden. Steht es sehr schlecht mit ihnen?“

„Ja, ziemlich, Kap’tän.“ Ransome sah mir fest in die Augen. Wir tauschten ein Lächeln, Ransome eine Spur wehmütiger als gewöhnlich, ich zweifellos etwas grimmig, meiner stillen Erbitterung entsprechend.

Ich fragte: „War heute morgen überhaupt Wind?“

„Das nicht gerade, aber wir sind etwas vorwärtsgekommen. Das Land vorn scheint ein wenig näher gerückt zu sein.“

Ein wenig näher. Das war es eben. Wenn wir nur eine Spur mehr Wind gehabt hätten, müssten wir jetzt schon Kap Liant dwars haben und uns jede Minute mehr und mehr von dem verpesteten Landstrich entfernen. Es handelte sich hier nicht allein um das Vorwärtskommen. Es schien mir, dass eine stärkere Brise die Infektion, die dem Schiff noch anhaftete, weggefegt haben müsste. Offenbar haftete sie jedoch dem Schiff noch an. Zwei Leute. Einer glühend und der andere vor Kälte schauernd. Ich empfand eine entschiedene Abneigung dagegen, sie mir anzusehen. Was würde es nützen? Gift ist Gift. Tropenfieber ist Tropenfieber. Aber dass es seine Klauen noch auf dem Meere nach uns ausstreckte, schien mir ein unerhörtes und unfaires Vorgehen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es etwas Ernsteres sein könnte, als ein letzter verzweifelter Übergriff des Bösen, vor dem wir in den reinen Atem des Meeres flüchteten. Wenn nur dieser Atem etwas stärker gewesen wäre! Aber wir hatten ja Chinin gegen das Fieber. Ich ging in die Kajüte, wo der Arzneikasten stand, um zwei Dosen zu holen. Von Glauben erfüllt wie jemand, der einen wundertätigen Schrein öffnet, machte ich ihn auf. Im oberen Fach stand eine Reihe dickbäuchiger Flaschen, die sich alle wie zwei Erbsen glichen. Unter diesen in Reih und Glied ordentlich aufgestellten Flaschen befanden sich zwei Schubladen, die vollgestopft waren mit Verbandzeug, in Papier gewickelten Päckchen und kleinen mit Etiketten versehenen Pappschächtelchen. Die unterste Schublade enthielt unseren Chininvorrat.

Es waren fünf Fläschchen davon, alle rund und gleich groß. Das eine war ungefähr ein Drittel voll. Die anderen vier waren noch in Papier eingewickelt und versiegelt. Zu meinem Erstaunen sah ich einen Briefumschlag darauf liegen. Ein viereckiger Umschlag, der dem Schiffsbriefpapier entnommen war.

So, wie er lag, konnte ich gleich sehen, dass er nicht zugeklebt war. Als ich ihn in die Hand nahm, bemerkte ich, dass er an mich adressiert war. Den halben Bogen Briefpapier, den er enthielt, öffnete ich mit dem sonderbaren Gefühl, es mit etwas Unheimlichem zu tun zu haben, aber ohne jede Erregung, so wie man im Traum Menschen begegnet und seltsame Dinge erlebt.

„Mein lieber Kapitän“, begann der Brief, aber ehe ich ihn weiter las, warf ich einen schnellen Blick auf die Unterschrift. Der Doktor hatte den Brief geschrieben. Er war von jenem Tag datiert, an dem ich von meinem Besuch bei Herrn Burns im Krankenhaus zurückgekehrt war und den guten Doktor in der Kajüte vorgefunden hatte, wo er auf mich wartete und mir erzählte, dass er die Zeit dazu benützt hätte, den Arzneikasten zu inspizieren. Wie sonderbar! Obgleich er mich jeden Augenblick zurückerwartete, hatte er sich damit zerstreut, mir einen Brief zu schreiben, und als ich dann eintrat, hatte er ihn schnell in die Schublade des Arzneikastens gestopft. Eine recht merkwürdige Handlungsweise. Ich begann jetzt mit Verwunderung das Schreiben zu lesen.

In einer großen, flüchtigen, aber leicht lesbaren Schrift hatte der gute, teilnahmsvolle Mann aus irgendeinem Grund, entweder aus Güte oder eher vielleicht durch den unwiderstehlichen Wunsch getrieben, seine Ansicht zu äußern, die er vorher verschwiegen hatte, um meine Hoffnungen nicht zu dämpfen, mich hier davor gewarnt, allzu großes Vertrauen in die wohltätigen Wirkungen zu setzen, die ich von der Seeluft erhoffte. „Ich wollte Ihre Sorgen nicht noch vermehren und Ihnen Ihre Hoffnungsfreudigkeit nehmen“, schrieb er. „Vom Standpunkt des Arztes, fürchte ich, sind die Unannehmlichkeiten noch nicht zu Ende.“ Kurzum, er vermutete, dass ich mit Rückfällen zu kämpfen haben würde. Glücklicherweise hätte ich einen reichlichen Vorrat an Chinin, ich sollte mein Vertrauen darauf setzen und es regelmäßig verabreichen, dann würde sich der Gesundheitszustand der Mannschaft bestimmt bessern.

Ich zerknüllte den Brief und stopfte ihn in die Tasche. Ransome brachte den Kranken vorn zwei ordentliche Portionen Chinin. Ich jedoch ging noch nicht an Deck. Stattdessen begab ich mich zu Herrn Burns, um ihm auch diese Neuigkeit mitzuteilen.

Es war unmöglich, festzustellen, welchen Eindruck die Nachricht auf ihn machte. Zuerst dachte ich, dass er sprachlos sei. Sein Kopf lag tief in den Kissen. Er bewegte jedoch die Lippen genügend, um mir zu versichern, dass er viel kräftiger würde, eine Behauptung, die schon allein sein Aussehen Lügen strafte.

Nachmittags übernahm ich die Wache, als verstände es sich von selbst. Eine große, glühende Stille hüllte das Schiff ein und schien es regungslos in einem flammenden Raum zu halten, der aus zwei Tönungen von Blau zusammengesetzt war. Ab und zu wurden die Segel von einem kraftlosen, heißen Lufthauch kaum merklich bewegt. Und doch glitt das Schiff weiter. Es muss so gewesen sein, denn als die Sonne unterging, hatten wir Kap Liant passiert, ein unheildrohender, in dem letzten schwachen Schimmer des Zwielichts immer mehr entschwindender Schatten.

Abends beim grellen Licht der Lampe schien Herr Burns nicht so tief in seinem Bett zu verschwinden. Es war, als ob eine Hand, die ihn bisher niedergedrückt hatte, fortgenommen worden wäre. Auf meine Worte erwiderte er mit einer verhältnismäßig langen zusammenhängenden Rede. Seine Lebenskräfte kehrten allmählich wieder. Wenn er dem Erstickungstod durch diese erdrückende Hitze entrinnen sollte, sagte er, hoffe er bestimmt in einigen Tagen an Deck zu kommen und mir helfen zu können.

Während er sprach, zitterte ich, dass der Aufwand an Energie ihm die letzte Kraft nehmen und ihn leblos vor meinen Augen hinstrecken würde. Aber ich muss gestehen, dass etwas Tröstliches in seinem guten Willen lag. Ich gab ihm eine geeignete Antwort, erklärte ihm aber, dass das einzige, was uns wirklich helfen könnte, Wind wäre – ein günstiger Wind.

Er warf den Kopf ungeduldig in den Kissen hin und her. Es war nicht gerade tröstlich zu hören, wie er anfing, verrückte Bemerkungen über den verstorbenen Kapitän zu murmeln, über den Alten, der auf 8° 20' nördlicher Breite gerade mitten auf unserem Kurs lag und am Eingang des Golfes lauerte.

„Sind Ihre Gedanken immer noch bei Ihrem vorigen Kapitän, Herr Burns?“ fragte ich. „Ich glaube kaum, dass die Toten irgendwelche feindseligen Gefühle gegen die Lebenden hegen. Sie sind ihnen vollkommen gleichgültig.“

„Aber diesen kannten Sie nicht“, flüsterte er kraftlos.

„Nein. Ich kannte ihn nicht, und er mich auch nicht. Eben darum kann er unmöglich einen Groll gegen mich haben.“

„Das schon. Aber wir anderen sind noch an Bord“, beharrte er.

Ich merkte, wie der unbezwingliche, starke, gesunde Menschenverstand allmählich heimtückisch untergraben wurde durch diesen schauerlichen Irrwahn. Darum sagte ich:

„Sie dürfen nicht so viel sprechen. Es strengt Sie zu sehr an.“

„Und dann ist das Schiff selbst da“, flüsterte er beharrlich

„Kein Wort mehr“, sagte ich und trat an sein Bett und legte die Hand auf seine kühle Stirn. Es bewies mir, dass dieser scheußliche Unsinn in dem Manne selbst wurzelte und nicht seiner Krankheit entsprang, die ihm anscheinend jede Kraft, die geistige und die körperliche, entzogen hatte, diese eine fixe Idee ausgenommen.

In den folgenden Tagen vermied ich es, mich in eine Unterhaltung mit Herrn Burns einzulassen. Ich warf ihm bloß ein eiliges, ermunterndes Wort im Vorbeigehen zu. Ich glaube, er würde, wenn er die Kraft gehabt hätte, mir mehr als einmal nachgerufen haben. Aber er hatte nicht die Kraft. Ransome jedoch bemerkte eines Nachmittags zu mir, dass der Erste Steuermann „sich erstaunlich gut zu erholen scheine“.

„Hat er in letzter Zeit Unsinn mit Ihnen geredet?“ fragte ich nachlässig.

„Nein, Kap’tän.“ Ransome war durch die direkte Frage verwirrt, aber nach einer Pause fügte er mit seiner gewöhnlichen Ruhe hinzu: „Heute morgen sagte er mir, es täte ihm leid, dass er unseren verstorbenen Kapitän direkt mitten auf unserem Kurs gewissermaßen, am Eingang des Golfes, hatte beisetzen müssen.“

„Scheint Ihnen das nicht der reinste Blödsinn?“ fragte ich und sah vertrauensvoll in das intelligente, ruhige Gesicht, über welches die heimliche Unruhe in seiner Brust einen durchsichtigen Schleier von Sorge geworfen hatte.

Ransome wusste es nicht. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Und mit einem flüchtigen Lächeln verließ er mich, um mit seiner üblichen behutsamen Regsamkeit zu seinen nimmer endenden Pflichten zu eilen.

Zwei weitere Tage verstrichen. Wir waren ein wenig vorwärtsgekommen – ganz wenig – aus dem näheren Bereich des Golfs von Siam heraus. Wiewohl ich mit freudiger Begeisterung nach dem ersten Kommando, das mir durch Kapitän Giles’ Vermittlung in den Schoß gefallen war, gegriffen hatte, wurde ich das unbehagliche Gefühl nicht los, dass vielleicht ein solches Glück auf irgendeine Weise bezahlt werden müsse. Ich hatte meine Aussichten hinsichtlich meines Berufs einer Prüfung unterzogen. Dazu war ich kompetent genug. Ich hielt mich wenigstens dafür. Ich hatte das bestimmte Gefühl, für diesen Beruf geeignet zu sein, ein Gefühl, das nur derjenige kennen kann, der einen Beruf ausübt, den er liebt. Dieses Gefühl schien mir das natürlichste der Welt, so natürlich wie das Atmen. Ich bildete mir ein, ich hätte ohne dieses nicht leben können.

Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartete. Vielleicht nichts anderes als jene besondere Intensität des Lebens, welche die Quintessenz alles jugendlichen Strebens ist. Was ich auch erwartete, von Orkanen heimgesucht zu werden, erwartete ich nicht. Soviel wusste ich, im Golf von Siam gibt es keine Orkane. Aber so hoffnungslos an Händen und Füßen gefesselt zu sein, wie es sich mir mit jedem Tage mehr zeigte, hatte ich auch nicht erwartet.

Nicht als ob der böse Bann uns immer in vollkommener Regungslosigkeit festgehalten hätte. Das wechselnde Aussehen der Inseln, welche die Ostküste des Golfes von Siam umsäumen, ließ uns erst erkennen, dass geheimnisvolle Strömungen uns mit heimtückischer Macht hierhin und dorthin trieben. Und Brisen hatten wir auch, aber launenhafte, tückische. Sie erweckten Hoffnungen, nur um sie in bitterste Enttäuschung zu kehren, sie verhießen gute Fahrt und bewirkten nur Kursabweichungen, – diese Brisen –, die in Seufzer aushauchten, in lautloser Stille dahinstarben, in welcher die Strömungen ihren Willen hatten – ihren feindseligen Willen.

Die Insel Koh Rong (Kambodscha), ein großer, schwarzer, wie empor geschleuderter Felsen, der zwischen den unzähligen kleinen Inselchen wie ein auf dem spiegelglatten Wasser liegender Meergott unter Elritzen aussah, schien den Mittelpunkt unseres verhängnisvollen Kreises zu bilden. Wir konnten gar nicht davon loskommen. Tag für Tag hatten wir die Insel vor Augen. Mehr als einmal nahm ich bei günstiger Brise bei dem schnell abnehmenden Abendlicht ihre Peilung in der Hoffnung, dass es das letzte Mal sein würde. Vergebliche Hoffnung! Eine Nacht wechselnder Winde beraubte uns wieder des Gewinns, und im Licht der aufgehenden Sonne erhob sich dann die schwarze Silhouette von Koh Rong kahler, ungastlicher, grimmiger als je.

„Es ist wie verhext, auf mein Wort“, sagte ich einmal zu Burns, als ich wieder wie gewöhnlich in seiner Tür stand.

Er saß aufrecht in seiner Koje. Er strebte der Welt der Lebenden wieder zu, wenn man auch noch nicht sagen konnte, dass er ihr schon angehörte. Er nickte mir mit seinem schmächtigen, abgezehrten Kopf weise und geheimnisvoll zu.

„Ja, ja, ich weiß schon, was Sie meinen“, sagte ich. „Aber Sie können nicht von mir verlangen, dass ich glaube, ein Verstorbener hat die Macht, die Meteorologie dieser Gegend aus den Fugen zu bringen. Sie scheint allerdings ganz und gar in Unordnung geraten zu sein. Die Land- und Seebrisen wehen nur stückweise, wie in Fetzen gerissen. Wir können uns nicht fünf Minuten auf sie verlassen.“

„Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis ich an Deck kommen kann,“ murmelte Herr Burns, „und dann werden wir sehen.“

Ob diese Äußerung ein Versprechen bedeuten sollte, den Kampf gegen übernatürliche Kräfte aufzunehmen, weiß ich nicht. Jedenfalls war das nicht die Art Hilfe, die ich brauchte. Andererseits hatte ich tatsächlich Tag und Nacht an Deck gelebt, um nur ja keine Gelegenheit zu versäumen, mein Schiff etwas weiter nach Süden zu bringen. Der Erste Steuermann war, wie ich sah, noch immer sehr schwach und auch noch nicht ganz von dem Wahn befreit, der mir ein Symptom seiner Krankheit zu sein schien. Jedenfalls durfte man einem Kranken die Hoffnungsfreudigkeit nicht nehmen. Ich sagte:

„Ich werde mich außerordentlich freuen, Sie dort zu sehen, Herr Burns. Wenn Sie weiter solche Fortschritte machen, werden Sie bald der gesündeste Mann auf dem Schiff sein.“

Darüber freute er sich, aber durch sein furchtbar abgezehrtes Gesicht wurde sein selbstzufriedenes Lächeln eine grauenhafte Grimasse, die seine langen Zähne unter dem roten Schnurrbart sehen ließ.

„Geht es den Leuten noch nicht etwas besser, Kap'tän?“ fragte er schon ganz vernünftig und mit einem Ausdruck wirklicher Sorge auf dem Gesicht.

Ich antwortete ihm mit einer ausweichenden Geste und entfernte mich. In Wahrheit spielte dieses Tropenfieber ebenso launenhaft mit uns wie der Wind. Ein Mann nach dem anderen wurde davon ergriffen, den einen packte es leichter, den anderen schwerer, aber immer ließ es seine Spuren zurück; die einen brachte es nur zum Taumeln, die anderen warf es vorübergehend zu Boden, diesen verließ es, um zu einem anderen zurückzukehren, so dass sie jetzt alle einen furchtsamen, gehetzten Ausdruck in den Augen hatten, während Ransome und ich, die einzigen, die noch vollkommen unberührt geblieben waren, zwischen ihnen umhergingen und unermüdlich Chinin austeilten. Es war ein doppelter Kampf. Das ungünstige Wetter verhinderte uns, vorwärts zu kommen, und die Krankheit folgte uns auf den Fersen. Ich muss sagen, die Männer waren sehr brav. Die ständige mühsame Arbeit des Umbrassens der Rahen nahmen sie bereitwilligst auf sich. Aber alle Elastizität war aus ihren Gliedern gewichen, so dass ich mich bei ihrem Anblick vom Schanzdeck aus des furchtbaren Gedankens nicht erwehren konnte, dass sie sich in vergifteter Luft bewegten.

Unten in seiner Kammer war Herr Burns schon so weit, dass er sich in seiner Koje nicht nur aufsetzen konnte, sondern er war sogar imstande, die Beine hochzuziehen. Gleich einem lebenden Skelett hielt er sie mit seinen knochigen Armen umklammert und stieß tiefe, ungeduldige Seufzer aus.

„Die Hauptsache, Kap’tän,“ pflegte er mir bei jeder Gelegenheit zu sagen, „die Hauptsache ist, das Schiff an 8° 20' nördlicher Breite vorbei zu kriegen. Ist es erst da vorbei, sind wir aus aller Not heraus.“

Zuerst pflegte ich ihn nur anzulächeln, obgleich mir weiß Gott nicht sehr zum Lächeln zu Mute war. Aber schließlich verlor ich die Geduld.

„Ja, ja. 8° 20' nördlicher Breite. Das ist, wo der verstorbene Kapitän liegt, nicht wahr?“ Dann fügte ich streng hinzu: „Finden Sie nicht, dass es hohe Zeit ist, mit diesem Unsinn endlich aufzuhören, Herr Burns?“

Er sah mich aus seinen großen, tiefliegenden Augen mit einem Blick unbezwinglichen Eigensinns an. Aber im Übrigen murmelte er nur gerade laut genug, dass ich es hören konnte: „Nicht wundern ... finden ... uns doch noch einen gemeinen Streich spielt ...“

Solche Unterhaltungen stärkten nicht gerade meinen Mut. Der Druck unseres Missgeschicks begann sich bei mir fühlbar zu machen. Gleichzeitig jedoch empfand ich diese verborgene Seelenschwäche als eine Schmach.

Ich sagte mir verächtlich, dass viel mehr dazu gehören müsste, um meine Seelenstärke nur im Geringsten zu erschüttern.

Damals ahnte ich nicht, wie bald und auf welche unerwartete Weise diese Seelenstärke angegriffen werden würde.

Am folgenden Tag schon geschah es. Die Sonne war bereits über die Südspitze von Koh Rong gestiegen, über diese Insel, die noch immer wie ein verhängnisvoller Begleiter backbord achteraus emporragte. Ihr Anblick war mir verhasst. Die Nacht hindurch hatten wir uns um die ganze Kompassrose gedreht und die Rahen immer und immer wieder gebrasst, um Lüfte aufzufangen, welche meistenteils, fürchte ich, nur eingebildete waren. Dann ungefähr bei Sonnenaufgang bekamen wir eine Stunde lang eine unerklärliche, ständige Brise, die uns gerade entgegenwehte. Es war unverständlich. Denn sie passte weder zu der Jahreszeit noch zu den jahrhundertlangen Erfahrungen der Seeleute, wie sie die Segelhandbücher berichten, noch zu dem Aussehen des Himmels. Nur absichtliche Bosheit konnte dahinter stecken. Diese Brise trieb uns in ziemlicher Geschwindigkeit weit ab von unserem Kurs. Hätten wir uns nur auf einer Vergnügungsfahrt befunden, wäre es eine entzückende Brise gewesen, bei dem erwachten Glitzern des Meeres, dem Gefühl der Bewegung und der ungewohnten Frische. Dann plötzlich, als ob der Wind es verschmähte, den traurigen Scherz weiterzutreiben, legte er sich und war binnen fünf Minuten ganz weg, so dass das Schiff steuerlos schwabberte und das zur Ruhe gebrachte Meer wie eine polierte Stahlplatte aussah.

Ich ging hinunter, nicht weil ich mich ausruhen wollte, sondern nur, weil ich im Moment es nicht ertragen konnte, das Meer anzusehen. Der unermüdliche Ransome war in der Messe beschäftigt. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, mir jeden Morgen über den Gesundheitszustand der Leute zu berichten. Mit seinem gewohnten angenehmen, ruhigen Blick wandte er sich vom Büfett mir zu. Kein Schatten lag auf seiner klugen Stirn.

„Heute Morgen geht es vielen von den Leuten ziemlich schlecht, Kap’tän“, sagte er mit ruhiger Stimme.

„Was? Sind sie alle zusammengeklappt?“

„Nur zwei liegen fest zur Koje, Kap’tän, aber ...“

„Diese Nacht hat ihnen wohl den letzten Rest gegeben. Wir haben die ganze Zeit brassen müssen.“

„Ja, ich habe es gehört. Ich wollte schon herauskommen und helfen, nur ...“

Aber nein, das dürfen Sie nicht ... Die Leute liegen auch nachts an Deck umher. Es ist nicht gut für sie...“

Ransome stimmte mir bei. Man könnte aber nicht auf die Leute wie auf Kinder aufpassen. Außerdem könnte man es ihnen nicht verdenken, wenn sie versuchten, das bisschen Kühle und Luft an Deck zu erhaschen. Er natürlich sei zu vernünftig dazu.

Er war in der Tat sehr vernünftig. Und wiederum konnte man nicht sagen, dass die anderen es nicht waren. Die letzten Tage waren für uns wie ein feuriger Ofen gewesen. Ihre Unvorsichtigkeit war so natürlich und allgemein menschlich, dass man wirklich nicht mit ihnen hadern konnte, weil sie die Augenblicke der Erleichterung wahrnahmen, wenn die Nacht Kühlung vortäuschte und das Sternenlicht durch die schwüle, tauschwere Luft funkelte. Überdies waren die meisten Leute so geschwächt, dass nicht die geringste Änderung der Segel vorgenommen werden konnte, ohne dass alle, die nur zu kriechen vermochten, an die Brassen mussten. Nein, es hatte keinen Zweck, ihnen deswegen Vorstellungen zu machen. Aber ich war fest von der Nützlichkeit des Chinins überzeugt.

Ich glaubte daran. Mein ganzes Vertrauen setzte ich darauf. Seine heilsame Kraft würde die Leute, das Schiff retten, den bösen Bann brechen, die Zeitfrage zu einer Bagatelle, das Wetter zu einer bloß vorübergehenden Unannehmlichkeit machen, und gleich einem Zaubermittel gegen Behexung würde es mein Schiff bei seiner ersten Fahrt vor den bösen Mächten der Windstillen und Seuchen schützen. Ich hielt es für wertvoller als Gold, nur, im Gegensatz zu Gold, von dem es anscheinend niemals genug gibt, hatte das Schiff einen genügenden Vorrat davon. Ich ging hinein, um das Chinin zu holen mit der Absicht, die Dosen davon abzuwiegen. Ich streckte die Hand danach aus wie einer, der nach einem nie versagenden Universalmittel greift, nahm eine frische Flasche zur Hand, streifte die Verpackung ab, dabei bemerkte ich, dass das Siegel an beiden Enden, sowohl unten wie oben, aufgeplatzt war...

Aber wozu alle diese rasch aufeinander folgenden Stufen, die zu der grausigen Entdeckung führten, aufzählen? Sie werden schon die Wahrheit erraten haben. Da war die Verpackung, die Flasche und das weiße Pulver darin. Irgendein Pulver, nur nicht Chinin. Ein Blick genügte. Ich erinnere mich noch, dass mich, als ich die Flasche zur Hand nahm und die Verpackung noch nicht entfernt hatte, bereits durch das Gewicht der Flasche in meiner Hand eine leise Vorahnung befiel. Chinin wiegt fast gar nichts; meine Nerven mussten schon in einem außergewöhnlich überreizten Zustand gewesen sein. Ich ließ die Flasche zur Erde fallen, wo sie in Scherben ging. Das Zeug, was es auch sein mochte, knirschte wie Sand unter meinem Fuß. Ich griff hastig nach der nächsten Flasche, und dann nach der nächsten. Ihr Gewicht allein sagte mir schon genug. Eine nach der anderen fiel mir aus den Händen und zerbrach zu meinen Füßen, nicht, dass ich sie in meiner Bestürzung hingeworfen hätte, nein, sie glitten mir einfach durch die Finger, als ginge diese Entdeckung über meine Kraft.

Es ist eine Tatsache, dass gerade die Größe eines Unglücks dem Menschen darüber hinweghilft, indem es eine gewisse vorübergehende Unempfindlichkeit hervorruft. Als ich die Kajüte verließ, war ich halb betäubt, als ob mir etwas Schweres auf den Kopf gefallen wäre. Am anderen Ende der Messe stand Ransome am Tisch, das Staubtuch in der Hand, und starrte mich mit offenem Munde an. Ich glaube nicht, dass ich verstört aussah. Es ist ganz gut möglich, dass ich einen eiligen Eindruck machte, weil ich instinktiv an Deck eilte. Ein Beispiel dafür, wie aus Gewohnheit Instinkt wird. Mit den Schwierigkeiten, den Gefahren, den Problemen eines Schiffes auf hoher See kann man nur an Deck fertig werden.

Auf dieses Gefühl reagierte ich instinktiv, als wäre es ein Gebot der Natur; ein Beweis, dass ich für den Augenblick der Vernunft ganz beraubt gewesen sein muss.

Ich hatte entschieden mein geistiges Gleichgewicht verloren und war jedem Impuls ausgeliefert, denn am Fuß der Treppe drehte ich mich um und stürzte an Herrn Burns’ Kammertür. Sein wildes Aussehen brachte mich wieder zu mir. Er saß aufrecht in seiner Koje, sein Oberkörper sah unheimlich lang aus, den Kopf hielt er mit affektierter Selbstzufriedenheit ein wenig zur Seite geneigt. Er schwenkte einen Arm, der nicht dicker als ein fester Spazierstock war und in der zitternden Hand eine glitzernde Schere, mit welcher er vor meinen Augen gegen seine Kehle zu stoßen versuchte.

Ich war einigermaßen entsetzt, aber es war eher eine Art nebensächlicher Eindruck, nicht stark genug, um mich aufschreien zu lassen, etwa: „Halt! ... Um Himmels willen! ... Was machen Sie da?“

In Wirklichkeit machte er nur in Überschätzung seiner wiederkehrenden Kraft einen zitternden Versuch, etwas von dem starken Haarwuchs auf seinem Kinn abzuschneiden. Auf seinen Knien lag ein großes Handtuch ausgebreitet, und ein Regen von borstigen Haaren, gleich abgerissenen Kupferdrähten fiel bei jeder Bewegung der Schere auf das Tuch herab.

Er wandte mir sein Gesicht zu, das an Groteskem alle Phantasiegebilde verrückter Träume weit übertraf, die eine Wange ganz buschig wie von einer aufgeblasenen Flamme eingehüllt, die andere entblößt und eingefallen, auf ihr prangte einsam und grimmig der noch unberührte lange Schnurrbart. Während er mich wie vom Donner gerührt anstarrte, die klaffende Schere in der Hand, schrie ich ihm meine Entdeckung in sechs Worten ohne jeglichen Kommentar teuflisch ins Gesicht.

V

Ich hörte das Klappern der Schere, als sie seiner Hand entfiel und sah, wie sein ganzer Körper plötzlich gefährlich nach vorn über den Rand der Koje der Schere nachstrebte, dann führte ich meinen ersten Vorsatz aus und ging an Deck. Ich sah nichts anderes als das funkelnde Meer. In seiner ganzen schimmernden Pracht und Öde lag es vor mir, eintönig und ohne Hoffnung unter dem leeren Dom des Himmels. Die Segel hingen regungslos und schlaff, selbst die Falten ihrer sich sackenden Flächen bewegten sich so wenig, als wären sie aus Granit gehauen. Der Rudersmann fuhr bei meiner ungestümen Ankunft leicht zusammen. Merkwürdigerweise quietschte oben ein Block; was in aller Welt konnte das Ding zum Quietschen bringen? Es klang wie ein schriller Vogelschrei. Lange, lange Zeit stand ich einer leeren Welt gegenüber, einer Welt, die in einem unendlichen Schweigen versunken war, durch welches die Sonne zu irgendeinem geheimnisvollen Zweck ihre Strahlen strömen und fluten ließ. Dann hörte ich Ransomes Stimme neben mir:

„Ich habe Herrn Burns wieder zu Bett gebracht, Kap’tän.“

„So, das haben Sie getan.“

„Nun ja, Kap’tän. Er stand plötzlich auf, aber als er den Rand der Koje losließ, fiel er hin. Er scheint mir aber nicht zu phantasieren.“

„Nein“, sagte ich teilnahmslos, ohne Ransome anzusehen. Er wartete einen Augenblick, dann vorsichtig, als wollte er mich nicht beleidigen, bemerkte er: „Ich glaube nicht, dass viel von dem Zeug verloren zu gehen braucht, Kap’tän. Ich kann es zusammenfegen, fast alles, und dann könnte man es durch ein feines Sieb tun, um die Glassplitter zu entfernen. Ich werde es sofort machen. Das Frühstück braucht darum nicht später zu sein, wenigstens nicht mehr als ein paar Minuten.“

„Ja, ja“, erwiderte ich bitter. „Lassen Sie das Frühstück nur ruhig warten, fegen Sie alles zusammen und werfen Sie es in Gottes Namen über Bord!“

Das tiefe Schweigen kehrte zurück, und als ich über meine Schulter blickte, war Ransome – der kluge, ruhige Ransome – von meiner Seite verschwunden. Die tiefe Einsamkeit des Meeres wirkte wie Gift auf meinen Verstand. Als ich die Blicke vom Wasser dem Schiff zuwandte, erschien es mir in einer krankhaften Vision wie ein schwimmendes Grab. Wer hat nicht schon von Schiffen gehört, die man irgendwo von Wasser und Wind getrieben fand, mit der ganzen Mannschaft tot an Bord? Ich sah den Mann am Ruder an und wollte ihn erst anreden – sein Gesicht nahm auch einen erwartungsvollen Ausdruck an, als hätte er meine Absicht erraten – ich unterließ es jedoch und ging hinunter von dem Gedanken getrieben, eine Weile mit meinem großen Kummer allein zu sein. Aber durch die offene Tür seiner Kammer sah mich Herr Burns hinunter kommen und redete mich mürrisch an: „Nun, Kap’tän, wie steht es?“

Ich ging zu ihm hinein. „Schlecht steht es“, sagte ich.

Herr Burns, der jetzt wieder in seiner Koje untergebracht worden war, versteckte seine haarige Backe mit der Handfläche.

„Dieser vermaledeite Kerl hat mir die Schere weggenommen“, war seine nächste Bemerkung.

Bei dem überreizten Zustande meiner Nerven war es vielleicht ganz gut, dass Herr Burns durch diese neue Beschwerde vollkommen beschäftigt war. Er schien tief gekränkt zu sein und brummte:

„Denkt er, ich bin verrückt, oder was?“

„Nein, das glaube ich nicht, Herr Burns“, sagte ich. In diesem Moment kam er mir wie ein Muster von Fassung und Selbstbeherrschung vor. Ich empfand sogar deshalb eine gewisse Bewunderung für diesen Mann, der schon (abgesehen von der entschiedenen Stofflichkeit seines noch übrig gebliebenen Bartes) soviel Ähnlichkeit mit einem körperlosen Geist besaß, wie es ein Mensch haben kann, ohne sich ganz aufzulösen. Die unnatürliche Schärfe seines Nasenrückens, die tiefen Höhlen an seinen Schläfen fielen mir auf, und ich beneidete ihn. Er war so abgezehrt, dass er wahrscheinlich bald sterben würde. Beneidenswert! Der völligen Auflösung so nahe, während ich noch mit mir einen Aufruhr leidvoller Lebenskraft herumtragen musste, einen Sturm von Zweifel, Ratlosigkeit, Selbstvorwürfen und einen undefinierbaren Widerwillen, der furchtbaren Logik der Situation ins Auge zu sehen. Ich konnte nicht umhin zu murmeln: „Ich habe das Gefühl, als würde ich selbst verrückt.“

Herr Burns starrte mich geisterhaft an, blieb aber sonst wunderbar gefasst.

„Ich habe ja immer gedacht, dass er uns irgendeinen tödlichen Streich spielen würde“, sagte er mit einer eigentümlichen Betonung des Wortes „er“.

Seine Worte entsetzten mich, aber ich hatte weder die Lust noch die Energie, mich mit ihm darüber auseinanderzusetzen. Meine Krankheit äußerte sich in Gleichgültigkeit. Die schleichende Paralyse einer hoffnungslosen Aussicht. So starrte ich ihn nur an. Herr Burns fuhr fort:

„Wie? Was? Nein? Sie glauben nicht daran? Wie sonst meinen Sie, hätte das geschehen können?“

„Geschehen?“ fragte ich teilnahmslos. „Nun ja, wie in aller Teufel Namen hat es nur geschehen können?“

Es schien in der Tat bei genauerer Überlegung unfasslich, dass sich folgendes abgespielt hätte: die Flaschen geleert, wieder gefüllt, frisch verpackt und an ihren Platz zurückgestellt. Es war wie ein Komplott, ein verhängnisvoller Versuch zu betrügen, eine Handlungsweise, die einem raffiniert ausgedachten Racheakt glich – warum aber? – oder ein teuflischer Scherz. Aber Herr Burns hatte schon eine Erklärung gefunden. Sie war einfach, und er setzte sie mir auseinander, feierlich mit hohler Stimme.

„In Hai Phòng wird man ihm wohl zirka fünfzehn Pfund für diesen kleinen Posten gegeben haben.“ – „Herr Bums!“ rief ich.

Über seinen hochgezogenen Beinen, die wie zwei Besenstiele in dem Schlafanzug aussahen, aus dem seine riesengroßen nackten Füße hervorschauten, nickte er mir grotesk zu.

„Warum nicht? In diesem Teil der Welt ist das Zeug ganz hübsch teuer, und in Tongking war der Vorrat sehr knapp. Was fragte er nach uns? Sie kannten ihn nicht. Aber ich kannte ihn, und ich trotzte ihm. Er fürchtete weder Gott noch Menschen, weder den Teufel noch den Sturm, noch das Meer, noch sein eigenes Gewissen. Und ich glaube, er hasste alle Menschen und alle Dinge. Aber Angst vor dem Sterben hatte er doch, denke ich. Ich glaube, ich bin der einzige Mensch, der ihm jemals die Stirn bot. In dieser Kajüte, wo Sie jetzt wohnen, trat ich ihm entgegen, als er krank war, und damals schüchterte ich ihn ein. Er dachte, ich wollte ihm den Hals umdrehen. Wenn er seinen Willen gehabt hätte, würden wir noch gegen den Nordost-Monsun ankreuzen, solange er lebte und ewige Zeiten nachher und den Fliegenden Holländer im Chinesischen Meer spielen! Ha! Ha!“

„Aber warum sollte er die Flaschen alle wieder so zurückgestellt haben…?“ begann ich.

„Warum nicht? Warum sollte er sie wegwerfen? Sie passen in die Schublade hinein, und sie gehören zur Medizinkiste.“

„Und sie waren auch eingewickelt“, rief ich.

„Nun, die Verpackung war schon da. Aus Gewohnheit hat er es wohl getan, und was das Wiederauffüllen betrifft, es gibt immer eine Menge Zeug, das man in Papier eingewickelt zugeschickt bekommt, das mit der Zeit aufplatzt. Und dann, wer weiß? Sie haben es wohl nichtgekostet, Kap’tän? Aber natürlich sind Sie sicher...“

„Nein“, sagte ich, „gekostet habe ich es nicht. Jetzt ist alles schon über Bord geworfen.“

Hinter mir sagte eine leise, höfliche Stimme: „Ich habe es gekostet. Anscheinend war es eine Mischung von allen möglichen Dingen, es schmeckte teils süßlich, teils salzig, jedenfalls widerlich.“

Ransome war aus der Anrichtekammer hinausgetreten, wo er uns eine Weile zugehört hatte, was man ihm nicht weiter übel nehmen konnte.

„Ein hundsgemeiner Streich“, erklärte Herr Burns. „Ich sagte ja immer, dass wir etwas Ähnliches gewärtigen könnten.“

Meine Entrüstung kannte keine Grenzen. Und der freundliche, teilnahmsvolle Arzt? Der einzige wirklich teilnahmsvolle Mann, den ich jemals kennen gelernt hatte ... anstatt jenen warnenden Brief zu schreiben – diese Quintessenz der Teilnahme –, warum hatte der Mensch nicht lieber eine richtige Inspektion des Arzneikastens vorgenommen? Aber wiederum war es eigentlich ungerecht, dem Doktor Vorwürfe zu machen. Äußerlich hatte ja die Medizinkiste ausgesehen, als wäre alles in Ordnung, und ihre Ausstattung ist Sache der Behörden. Es war absolut nichts gewesen, was den geringsten Argwohn hätte erwecken können. Der einzige, dem ich es nie würde verzeihen können, war ich selbst. Nie durfte man etwas für selbstverständlich annehmen. Ewige Vorwürfe würde ich mir machen.

„Ich habe das Gefühl, es ist alles meine Schuld,“ rief ich, „meine allein. Diese Empfindung habe ich. Nie werde ich es mir verzeihen können!“

„Das ist sehr töricht, Kap’tän“, entgegnete Burns grimmig.

Nach dieser Anstrengung fiel er erschöpft in seine Kissen zurück. Keuchend schloss er die Augen. Diese Geschichte, diese abscheuliche Entdeckung, hatte auch ihn erschüttert. Als ich mich abwandte, um fortzugehen, sah ich, wie Ransome mich bestürzt ansah. Er hatte begriffen, was es bedeutete, aber trotzdem gelang es ihm, sein freundlich wehmütiges Lächeln hervorzubringen. Dann kehrte er in seinen Anrichteraum zurück, und ich stürzte wieder an Deck, um zu sehen, ob etwas Wind zu spüren sei, eine Regung der Luft, ein Hauch unter dem Himmel, irgendein Hoffnung erweckendes Zeichen. Die verhängnisvolle Stille begegnete mir wieder. Nichts hatte sich verändert, außer, dass ein anderer Mann am Ruder war. Er machte einen elenden Eindruck. Seine ganze Gestalt drückte Ermattung aus, und er schien sich eher an die Speichen anzuklammern, als dass er sie mit einem kontrollierenden Griff festhielt. Ich sagte zu ihm:

„Sie dürften gar nicht hier sitzen.“

„Eine Weile kann ich noch aushalten, Kap’tän“, erwiderte er mit matter Stimme.

Im Grunde genommen hatte er nichts zu tun, da doch keine Fahrt im Schiff war. Es lag mit dem Bug nach Westen, die unvermeidliche Insel Koh Rong war über dem Heck achteraus sichtbar, ebenso einige kleine Inseln; wie schwarze Pünktchen in dem weiß glühenden Licht schwammen sie vor meinen bekümmerten Augen. Außer diesem kleinen Stückchen Land war nicht ein Punkt am Himmel, nicht ein Punkt auf dem Wasser, nicht ein Hauch Dunst, nicht eine Spur Rauch, kein Segel, kein Boot, kein menschlicher Laut, kein Lebenszeichen, nichts!

Die erste Frage war, was tun? Was konnte man tun? Zweifellos musste man zuerst die Mannschaft davon in Kenntnis setzen. Und ich tat es auch am selben Tage, Ich wollte nicht, dass man mir zuvorkam. Mutig wollte ich ihnen entgegentreten und es ihnen selbst sagen. Sie wurden zu diesem Zweck auf dem Achterdeck versammelt. Als ich zu ihnen hinauskam, wurde mir klar, dass es fürchterliche Augenblicke im Leben gibt. Kein geständiger Verbrecher hätte ein solch niederdrückendes Gefühl seiner Schuld haben können, wie ich in diesem Moment. Darum vielleicht war mein Ausdruck hart, meine Stimme barsch und jedes Gefühls bar, als ich ihnen erklärte, dass ich nichts mehr für die Kranken tun könne, was Arzneien betraf. Dass sie soviel Pflege gehabt hätten, wie ich sie ihnen nur geben konnte, wussten sie.

Ihre Handlungsweise wäre mir vollkommen gerechtfertigt erschienen, wenn sie mich Glied für Glied zerrissen hätten. Das Schweigen, das auf meine Worte folgte, war fast schwerer zu ertragen als der wütendste Aufruhr. Ich war durch die unendliche Schwere des Vorwurfs, die in ihrem Schweigen lag, zu Boden gedrückt. Aber es stellte sich heraus, dass ich mich irrte. Mit einer Stimme, der ich nur mit unendlicher Mühe Festigkeit zu geben vermochte, fuhr ich fort: „Ich nehme an, dass ihr alle verstanden habt, was ich euch eben gesagt habe, und dass ihr wisst, was es bedeutet.“

Hier und da hörte man eine Stimme: „Jawohl, Kap'tän ... wir verstehen.“

Sie hatten geschwiegen, nur weil sie dachten, ich erwartete keine Antwort. Als ich ihnen sagte, dass ich beabsichtige, Singapore anzulaufen, und dass die einzige Aussicht für das Schiff und uns alle darin läge, dass wir alle, die Kranken sowohl wie die Gesunden, unser möglichstes täten, vorwärts und aus dieser furchtbaren Lage zu kommen, erhielt ich die Ermutigung eines leisen, zustimmenden Gemurmels und des Zurufes einer Stimme, welche lauter rief: „Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, aus diesem verfluchten Loch herauszukommen!“

Hier ist ein Auszug aus den Notizen, die ich damals niederschrieb.

„Koh Rong haben wir endlich aus dem Gesicht verloren. Ich glaube, dass ich seit vielen Tagen nicht mehr als zwei Stunden im ganzen unten gewesen bin. Ich bleibe natürlich Tag und Nacht an Deck, und die Nächte und die Tage kreisen über uns hinweg in ewiger Folge, ob lang, ob kurz, wer kann es sagen? Man hat allen Sinn für die Zeit verloren in der Eintönigkeit der Erwartung, der Hoffnung, der Sehnsucht – die in dem einen Gedanken gipfelt – das Schiff nach Süden zu bringen! Das Schiff nach Süden zu bringen! Es macht einen seltsam mechanischen Eindruck; die Sonne klettert in die Höhe und wieder hinunter, die Nacht schwingt sich über unsere Köpfe, als ob jemand unter dem Horizont eine Kurbel drehte. Es ist alles so zwecklos und aussichtslos! ... Und während der ganzen elenden Komödie gehe ich an Deck auf und ab, auf und ab. Wie viele Meilen bin ich auf diesen Planken gelaufen! Eine eigensinnige, rastlose Wallfahrt, deren Eintönigkeit ich durch kurze Besuche bei Herrn Burns unterbreche, um nach ihm zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber er scheint mir jeden Tag weniger durchsichtig zu werden. Er spricht nicht viel, denn unsere Lage ist wahrlich nicht dazu angetan, leeres Geschwätz zumachen. Dieses fällt mir sogar bei der Mannschaft auf, wenn ich sie beobachte, während sie an Deck sitzen oder umhergehen. Sie reden nicht miteinander. Die Idee kommt mir, dass, wenn es ein unsichtbares Ohr gäbe, das auf das Geflüster der Erde lauscht, dieses Schiff der lautloseste Fleck darauf sein würde ...

Nein, Herr Burns hat mir nicht viel zu sagen. Er sitzt in seiner Koje, der Bart ist verschwunden, aber der Schnurrbart leuchtet feuerrot – und auf seinem kreidebleichen Gesicht liegt ein Ausdruck schweigsamer Entschlossenheit. Ransome sagt mir, dass er das ganze Essen, das man ihm bringt, bis auf den letzten Happen verschlingt, jedoch scheine er sehr wenig zu schlafen. Selbst nachts, wenn ich hinuntergehe, um meine Pfeife zu füllen, merke ich, dass, obwohl er flach auf dem Rücken im Halbschlummer liegt, er immer noch sehr entschlossen aussieht. Wenn er wach ist, wirft er mir einen ärgerlichen Seitenblick zu, als hätte ich ihn bei einer anstrengenden geistigen Tätigkeit gestört. Wenn ich wieder an Deck komme, begegnet meinem Blick die gleiche geordnete Gruppierung der Sterne, wolkenlos, unendlich ermüdend. Es ist alles da: Sterne, Sonne, Meer, Licht, Dunkel, Himmelsraum, Wasserwüste; das gewaltige Werk der Sieben Tage, in welches die Menschen anscheinend ungeheißen hineingestolpert sind. Oder sind sie hineingelockt worden? Wie ich auf dieses furchtbare, vom Tode verfolgte Schiff gelockt wurde? ...“

Der einzige Lichtfleck auf dem Schiff nachts war das Licht der Kornpasslampen, die das Gesicht der sich ablösenden Rudergänger beleuchteten; wir andern waren in der Dunkelheit verloren, ich auf der Schanze und die Mannschaft an Deck, wo sie umher lag. Sie waren durch das Fieber alle so entkräftet, dass keine regelmäßige Wache mehr innegehalten werden konnte. Die Leute, welche noch gehen konnten, blieben die ganze Zeit auf ihrem Posten, sie lagen an Deck im Schatten umher, bis meine Stimme, zum Befehl erhoben, sie auf die geschwächten Füße brachte, eine taumelnde kleine Gruppe, die geduldig auf dem Schiff umherging, fast wortlos, kaum dass ein geflüsterter Ton zu hören war. Und jedes Mal, wenn ich die Stimme erheben musste, geschah es mit einem Gefühl des tiefsten Bedauerns und Mitleids.

Dann gegen vier Uhr morgens pflegte ein Licht vorn in der Küche aufzuleuchten. Der nie versagende Ransome mit dem unruhigen Herzen, immun, heiter und tätig, bereitete den ersten Kaffee für die Mannschaft. Bald darauf brachte er mir eine Tasse Kaffee herauf aufs Schanzdeck, und dann erst gestattete ich mir, mich in meinen Liegestuhl fallen zu lassen, um zwei Stunden richtig zu schlafen. Zweifellos muss ich ab und zu einmal auf die Reling gestützt, aus reiner Erschöpfung eingenickt sein, aber ich wurde – ehrlich gestanden – dessen nicht gewahr, außer durch ein schmerzhaftes Zusammenzucken, das mich sogar manchmal, auch beim Auf- und Abgehen an Deck zu überfallen schien. Von ungefähr fünf Uhr bis nach sieben pflegte ich unter den verblassenden Sternen ungehindert zu schlafen.

Ich pflegte zum Rudersmann zu sagen: „Rufen Sie mich, wenn es not tut“, und mit dem Gefühl, dass es für mich keinen Schlaf mehr auf Erden gäbe, ließ ich mich in jenen Liegestuhl fallen und schloss die Augen. Und dann wusste ich nichts mehr, bis ich zwischen sieben und acht Uhr eine leise Berührung an meiner Schulter fühlte und beim Aufblicken in Ransomes Gesicht schaute, der mich mit einem leisen, wehmütigen Lächeln und den freundlichen grauen Augen ansah, als ergötzte er sich liebevoll an meinem Schlummer. Manchmal kam der Zweite Steuermann und löste mich beim ersten Kaffee ab. Aber es war ja ziemlich einerlei, denn meistens herrschte eine Totenflaute, oder es wehten so schwache und wechselnde Lüfte, dass es sich nicht lohnte, eine Brasse anzurühren. Wenn eine etwas ständigere Brise aufkam, so konnte man sich auf den Rudergänger verlassen, dass er warnend rief: „Segel back!“ Ein Ruf, der mich wie ein Trompetenstoß einen Fuß hoch vom Deck aufspringen ließ. Diese Worte hätten mich, glaube ich, aus dem ewigen Schlaf aufspringen lassen. Aber es geschah selten. Solche hauchlosen Sonnenaufgänge habe ich nirgends seitdem erlebt. Wenn der Zweite Steuermann zufällig oben war (meistens hatte er von drei Fiebertagen einen fieberfreien), fand ich ihn gewöhnlich wie halb bewusstlos auf dem Deckslicht sitzend, während er mit einem idiotischen Ausdruck im Gesicht auf irgendeinen nahen Gegenstand starrte – eine Leine, eine Klampe, einen Belegnagel oder einen Ringbolzen.

Dieser junge Mann machte mir viel zu schaffen. Seine Leiden änderten nichts an seiner Ungeschliffenheit. Er schien sogar vollkommen blödsinnig geworden zu sein. Wenn das Fieber ihn wieder in seine Kammer zurücktrieb, kam es vor, dass er plötzlich aus ihr verschwunden war. Als es das erste Mal geschah, waren Ransome und ich sehr besorgt. Stillschweigend suchten wir ihn, und schließlich entdeckte Ransome ihn zusammengekauert zwischen Reservesegeln in der Segelkoje, die vom Kajütgang aus durch eine Schiebetür zu erreichen war. Als man ihm Vorstellungen machte, brummte er mürrisch: „Es ist kühl dort drin.“ Das stimmte nicht. Es war nur dunkel.

Sein an und für sich schon hässliches Gesicht wurde durch die beständige fahle Blässe nicht gerade verschönt. Bei vielen der Leute war es jedoch gerade umgekehrt. Die Verwüstungen des Fiebers schienen ihren Gesichtsausdruck zu veredeln, indem sie den unvermuteten Seelenadel der einen, die Stärke der anderen zum Vorschein brachte, in dem einen Fall sogar hatten sie einen ausgesprochen komischen Ausdruck enthüllt. Es war bei einem kleinen lebhaften, rothaarigen Mann mit einer Nase und einem Kinn, wie man sie häufig auf „Punch“-Bildern sieht. Seine Kameraden nannten ihn „Franzmann“. Warum, weiß ich nicht. Es mag sein, dass er von Geburt Franzose war, aber ich hörte ihn niemals ein Wort Französisch sprechen.

Schon ihn nach achtern auf das Ruderrad zukommen zu sehen, wirkte tröstlich. Die blauen, baumwollenen, bis zur Wade umgekrempelten Hosen, bei denen ein Bein immer höher umgeschlagen war als das andere, das saubere, karierte Hemd, die weiße Leinenmütze – augenscheinlich eine selbstfabrizierte – gaben seinem ganzen Aussehen etwas Keckes, und sein elastischer Gang, den er hartnäckig beibehielt, selbst wenn er – der arme Kerl ! – manchmal so schwach war, dass er nur torkeln konnte, erzählten von seinem unbesiegbaren Mut. Ein Matrose namens Gambril war auch da. Er war der einzige auf dem Schiff, der graues Haar hatte. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas sehr Ernstes, Herbes. Aber wenn ich mich auch aller ihrer Gesichter erinnere – dieser Gesichter, die vor meinen Augen in tragischer Weise immer schmaler und blasser wurden – ihre Namen sind fast alle meinem Gedächtnis entschwunden.

Die Worte, die wir wechselten, waren nur knapp und im Vergleich zu unserer Lage nichts sagend. Ich musste mich zwingen, ihnen ins Gesicht zu sehen, denn ich erwartete, vorwurfsvollen Blicken zu begegnen. Aber es war nicht der Fall. Der leidende Ausdruck in ihren Augen war schon schwer genug zu ertragen. Aber dafür konnten sie nicht. Im Übrigen frage ich mich, ob es das Ausgeglichene ihrer Seele war oder die Fähigkeit ihrer Phantasie, Mitgefühl zu empfinden, die sie so wunderbar machte, so würdig meiner unvergänglichen Achtung.

Meine Seele war aber weder ausgeglichen, noch hatte ich meine Phantasie richtig in der Gewalt. Es gab Augenblicke, in denen ich nicht allein fühlte, dass ich verrückt werden würde, sondern dass ich schon verrückt war, Augenblicke, in denen ich nicht wagte, den Mund zu öffnen aus Angst, mich durch einen unsinnigen Schrei zu verraten. Glücklicherweise brauchte ich nur Befehle zu erteilen, und das Erteilen von Befehlen übt eine beruhigende Wirkung auf den Befehlenden aus.

Überdies war der Seemann, der Wachoffizier in mir noch genügend bei Verstand. Ich war wie ein irrsinnig gewordener Tischler, der eine Kiste fabriziert. Wenn der Tischler noch so fest überzeugt ist, dass er der König von Jerusalem sei, die Kiste, die er macht, wird darum doch eine richtige Kiste werden. Was ich fürchtete, war, dass irgendein schriller Ton mir unwillkürlich entschlüpfen und mich aus dem Gleichgewicht bringen würde. Glücklicherweise, muss ich wieder sagen, bestand keine Notwendigkeit, meine Stimme zu erheben. Die brütende Stille des Weltalls schien gegen das geringste Geräusch so empfindlich zu sein wie ein Flüstergewölbe. Ein Wort, im gewöhnlichen Ton gesprochen, konnte man von einem Ende des Schiffes zum anderen hören. Das Furchtbare war, dass die einzige Stimme, die ich überhaupt vernahm, meine eigene war. Besonders nachts hallte sie ganz einsam zwischen den regungslosen Flächen der Segel wider.

Herr Burns, der noch immer mit jener Miene heimlicher Entschlossenheit in seiner Koje lag, fühlte sich veranlasst, über verschiedene Dinge seinen Unmut zu äußern. Unsere Unterredungen waren zwar kurze Fünfminutenangelegenheiten, aber dafür waren sie ziemlich häufig. Andauernd lief ich hinunter, um meine Pfeife frisch anzuzünden, obwohl ich in dieser Zeit nicht viel Tabak verrauchte. Die Pfeife ging fortwährend aus, denn in Wahrheit war ich nicht ruhig genug, um richtig rauchen zu können. Überdies hätte ich fast immer ebenso gut ein Streichholz an Deck anstecken und es in die Höhe halten können, bis es mir die Finger verbrannte. Aber ich pflegte immer hinunterzugehen. Es brachte Abwechslung. Es war die einzige Unterbrechung der unaufhörlichen Anspannung; und Herr Burns konnte mich natürlich jedes Mal durch seine offene Tür hinein- und hinausgehen sehen.

Die Knie hochgezogen, das Kinn darauf gestützt, mit seinen grünlichen Augen vor sich hinstarrend, war er eine unheimliche Gestalt, und da ich wusste, welche närrische Idee in seinem Kopfe arbeitete, auch keine anziehende für mich. Doch musste ich ab und zu einmal mit ihm sprechen, und eines Tages beklagte er sich, dass es auf dem Schiff so still sei. Wie er sagte, lag er Stunden und Stunden, ohne einen Laut zu hören, so dass er zuletzt nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte.

„Wenn Ransome gerade vorn ist in der Küche, ist alles so still, dass man denken könnte, sämtliche Leute an Bord sind tot“, brummte er. „Die einzige Stimme, die ich manchmal höre, ist Ihre, Kap’tän, und Ihre allein genügt nicht, um mich aufzuheitern. Was ist mit der Mannschaft los? Ist nicht einer da, der bei der Arbeit aussingt?“

„Nicht einer, Burns“, sagte ich. „Niemand an Bord hat Atem dafür übrig. Wissen Sie, dass ich manchmal nicht mehr als drei Matrosen zusammenbekommen kann, wenn ich welche brauche?“

Er fragte rasch und ängstlich:

„Noch niemand gestorben hoffentlich?“ – „Nein.“

„Das geht auch nicht“, erklärte Burns entschieden. „Das dürfen wir seinetwegen nicht zulassen. Wenn er erst einen kriegt, bekommt er sie alle.“

Ich protestierte ärgerlich gegen diese Äußerung. Ich glaube sogar, dass ich über die beunruhigende Wirkung dieser Worte fluchte. Sie griffen den letzten Rest Selbstbeherrschung an, der mir geblieben war. Während meiner endlosen Nachtwachen war ich schon hinreichend von schrecklichen Hirngespinsten heimgesucht worden. Bilder hatten mir vorgeschwebt von einem in der Windstille treibenden, in wechselnden Luftzügen hin und her irrenden Schiff, dessen ganze Mannschaft langsam hinsterbend an Deck umher lag. Solche Dinge sind schon vorgekommen.

Burns nahm meine Explosion mit einer geheimnisvollen Schweigsamkeit hin.

„Hören Sie“, rief ich. „Sie glauben ja selber nicht an das, was Sie sagen. Das können Sie einfach nicht. Es ist ausgeschlossen. Ich hätte eigentlich auch das Recht, etwas anderes von Ihnen zu erwarten. Meine Lage ist schon schlimm genug, ohne dass Sie sie mir mit Ihren törichten Phantasien noch erschweren.“

Er blieb ungerührt. Das Licht fiel so auf sein Gesicht, dass ich nicht sicher sein konnte, ob er leise lächelte oder nicht. Ich änderte meinen Ton.

„Hören Sie zu“, sagte ich. „Unsere Lage ist so verzweifelt geworden, dass ich einen Augenblick überlegt habe, ob ich – da wir nicht den Südkurs durchhalten können – nach Westen steuere und versuche, auf einen Dampferkurs zu treffen. Von ihm könnten wir wenigstens etwas Chinin bekommen. Was meinen Sie?“

„Nein, nein, nein!“ rief er. „Tun Sie das nicht, Kap’tän. Sie müssen unentwegt diesem Schurken die Stirn bieten. Wenn Sie es nicht tun, wird er die Oberhand gewinnen.“

Ich verließ ihn. Er war unmöglich. Er war wie besessen. Sein Protest war jedoch an und für sich ganz vernünftig. Tatsächlich, meine Idee, nach Westen zu steuern auf die Möglichkeit hin, einem Dampfer zu begegnen, konnte bei ruhiger Überlegung nicht bestehen. Auf der Seite, auf der wir waren, hatten wir genug Wind, wenigstens von Zeit zu Zeit, um uns mühsam gegen Süden vorwärts zu arbeiten. Wenigstens genug, um die Hoffnung am Leben zu erhalten. Aber angenommen, dass ich einen jener launischen Windstöße benutzt hätte, um nach dem Westen zu kommen, in eine Gegend, wo es tagelang keinen Hauch Wind gab, was dann? Vielleicht würde dann meine grausige Vision Wirklichkeit werden – jene Vision von einem treibenden Schiff mit einer toten Mannschaft, das vom Entsetzen gepackte Matrosen viele Wochen später entdecken würden.

An diesem Nachmittag brachte mir Ransome eine Tasse Tee an Deck, und während er mit dem Tablett in der Hand wartete, bemerkte er (wobei er den richtigen Ton der Teilnahme traf):

„Sie halten prachtvoll durch, Kap’tän.“

„Ja“, erwiderte ich. „Sie und ich scheinen vergessen worden zu sein.“

„Vergessen, Kap’tän?“

„Ja, von dem Fieberteufel, der sich an Bord dieses Schiffes eingenistet hat.“

Ransome warf mir einen seiner schnellen, sympathischen, intelligenten Blicke zu und ging dann mit dem Tablett fort. Der Gedanke kam mir, dass ich ein wenig wie Herr Burns gesprochen hatte. Ich ärgerte mich darüber. Doch vergaß ich mich jetzt oft so weit, dass ich in düsteren Augenblicken unserem Missgeschick gegenüber eine Haltung einnahm, die eher für einen Kampf gegen einen lebenden Feind gepasst hätte.

Ja, bisher hatte der Fieberteufel seine Hand weder nach Ransome noch nach mir ausgestreckt. Aber er konnte es jederzeit tun. Das war einer jener Gedanken, die man um jeden Preis bekämpfen und drei Schritte vom Leibe halten musste. Daran zu denken, dass Ransome, der Hausvater des Schiffes, aufs Krankenlager geworfen werden könnte, war mir unerträglich. Und was würde aus meinem Kommando werden, wenn ich niedergestreckt würde, wo doch Herr Burns so schwach war, dass er nicht stehen konnte, ohne sich am Rand der Koje festzuhalten, und der Zweite Steuermann einen Zustand ständiger Verblödung erreicht hatte? Es war unmöglich, sich so etwas vorzustellen, oder vielmehr es war nur allzu leicht, es sich vorzustellen.

Ich war allein auf der Schanze. Da das Schiff keine Fahrt hatte, schickte ich den Rudergänger fort, damit er sich irgendwo im Schatten hinsetzen oder hinlegen sollte. Die Leute waren alle so entkräftet, dass alle unnötigen Anforderungen an sie vermieden werden mussten. Es war der herbe Gambril mit dem ergrauten Bart. Mit größter Willigkeit ging er, aber durch die wiederholten Fieberanfälle war er – der arme Teufel! – so geschwächt, dass er, um die Niedergangtreppe herunterzukommen, sich umdrehen und mit beiden Händen am Messinggeländer festhalten musste. Es war einfach herzzerreißend, es mit anzusehen. Und doch ging es ihm nicht viel schlechter oder viel besser als all den anderen sechs oder sieben elenden Geschöpfen, die ich noch an Deck zusammenbekommen konnte.

Es war ein furchtbarer Nachmittag ohne Leben. Seit mehreren Tagen hatten sich in der Ferne tiefliegende Wolken gezeigt, weiße Massen, stellenweise dunkel zusammengeballt, die auf dem Wasser ruhten, regungslos, fast massiv, und doch wechselten sie andauernd, unmerklich im Aussehen. In der Regel verschwanden sie gegen Abend. Aber heute hatten sie das Untergehen der Sonne abgewartet, welche düster zwischen ihnen glühte und glimmte, ehe sie verschwand. Die pünktlichen und ermüdenden Sterne erschienen über unserem Masttope, aber die Luft blieb drückend und schwül.

Der nie versagende Ransome zündete die Kompasslampen an und glitt dann schattenhaft auf mich zu.

„Wollen Sie nicht hinuntergehen und versuchen, etwas zu essen, Kap’tän?“ fragte er.

Seine leise Stimme ließ mich zusammenfahren. Ich hatte an der Reling gestanden und geradeaus geschaut, wortlos, ohne etwas zu fühlen, selbst nicht die Müdigkeit meiner Glieder, ganz vom bösen Bann gefangen genommen.

„Ransome,“ fragte ich unvermittelt, „wie lange bin ich schon an Bord? Ich verliere allmählich jedes Gefühl für die Zeit.“

„Vierzehn Tage, Kap’tän“, sagte er. „Vorigen Montag waren es vierzehn Tage, dass wir Anker lichteten.“

In seiner gleichmäßig ruhigen Stimme glaubte ich Trauer zu hören. Er wartete eine Weile, dann fügte er hinzu: „Es sieht zum ersten Male aus, als ob wir Regen bekommen würden.“

Ich bemerkte dann den breiten Schatten am Horizont, der die tiefer stehenden Sterne ganz verlöschte, während die höheren, als ich zu ihnen emporschaute, aussahen, als schienen sie durch einen Rauchschleier auf uns herab.

Wie diese Wolkenwand dorthin gekommen und wie sie so hoch gestiegen war, konnte ich nicht sagen. Sie hatte ein unheildrohendes Aussehen. Kein Lüftchen regte sich. Auf eine zweite Aufforderung von Ransome ging ich in die Kajüte hinunter, um – wie er sagte – „zu versuchen, etwas zu essen“. Ich weiß nicht, ob der Versuch viel Erfolg hatte. Ich nehme an, dass ich damals wie alle Sterblichen von Nahrung lebte, aber wenn ich daran zurückdenke, scheint es mir, dass ich mich in jenen Tagen nur von unüberwindlicher Seelenpein nährte, die, wie ein Reizmittel aus der Hölle, gleichzeitig erregte und verzehrte.

Es ist die einzige Zeit meines Lebens, in welcher ich ein Tagebuch zu schreiben versuchte. Nein, nicht die einzige. Viele Jahre später, damals, als ich in vollkommen seelischer Vereinsamung lebte, schrieb ich meine Gedanken und die Geschehnisse von ungefähr zwanzig Tagen nieder. Aber dieses war das erste Mal. Ich kann mich nicht entsinnen, wie es kam oder wie der Bleistift und das Notizbuch mir in die Hände fielen. Es ist mir unfasslich, dass ich sie absichtlich gesucht haben sollte. Sie bewahrten mich vor der verrückten Angewohnheit, mit mir selbst zu sprechen.

Beide Male wählte ich sonderbarerweise diese Zuflucht in einer Lage, aus der ich nicht erwartete – um mich banal auszudrücken – „herauszukommen“. Ich konnte aber ebenso wenig erwarten, dass der Bericht mich überdauern würde. Ein Beweis also, dass es ein rein persönliches Bedürfnis war, mein Herz auf diese Weise zu erleichtern, und keine Selbstverherrlichung.

Hier muss ich noch eine zweite Probe davon geben, einige herausgerissene Blätter, die mir jetzt geisterhaft vorkommen, aus dem Teil, den ich gerade an jenem Abend schrieb:

„Am Himmel geht etwas vor, es ist wie eine Zersetzung, wie eine Auflösung der Luft, die so regungslos bleibt wie je. Es sind schließlich doch nur Wolken, die vielleicht – vielleicht auch nicht – Regen oder Wind bedeuten. Seltsam, dass sie mich so beunruhigen. Mir ist zumute, als müsste ich jetzt alle meine Sünden büßen. Aber wahrscheinlich bedrückt es mich nur, dass das Schiff noch immer unbeweglich, steuerlos daliegt und keine Tätigkeit mich ablenkt und meine Phantasie sich die furchtbarsten Bilder ausmalen kann, von dem Schlimmsten, das uns noch widerfahren könnte. Was wird geschehen? Wahrscheinlich nichts. Oder alles. Vielleicht kommt uns eine wütende Böe über den Kopf. Und an Deck sind fünf Leute, die nur die Lebenskraft von – sagen wir – zweien haben. Alle unsere Segel könnten uns fortwehen. Wir haben jeden Lappen stehen, seitdem wir an der Mündung des Mae Nam Chao Phraya die Anker aus dem Grund brachen vor fünfzehn Tagen ... oder fünfzehn Jahrhunderten. Mir scheint mein ganzes Leben vor diesem folgenschweren Tag so unendlich weit entfernt, eine längst verblasste Erinnerung an eine sorgenlose Jugendzeit, etwas, das jenseits eines Schattens liegt. Ja, Segel können sehr leicht fortgeweht werden. Das würde ein Todesurteil für das ganze Schiff bedeuten. Wir sind nicht imstande, neue Segel unterzuschlagen, unfasslicher Gedanke, aber es ist wahr. Oder wir könnten sogar die Masten verlieren. Bei Böen haben Schiffe sehr oft die Masten verloren, einfach weil die Takelage nicht rasch genug bedient worden ist, und wir haben nicht die Kraft umzubrassen. Es ist, als würde man an Händen und Füßen gefesselt, ehe einem die Kehle durchschnitten wird. Das Furchtbarste dabei ist, dass ich davor zurückschrecke, an Deck zu gehen, um dem Kommenden die Stirn zu bieten. Ich schulde es dem Schiff, ich schulde es den Leuten an Deck – denen, die bereit sind, auf ein Wort von mir ihre letzte Kraft hinzugeben. Und ich schrecke davor zurück. Vor der bloßen Vorstellung. Mein erstes Kommando. Jetzt verstehe ich erst das seltsame bange Gefühl, das mich früher gequält hat. Ich habe immer den Verdacht gehegt, dass ich vielleicht zu nichts tauge. Und nun habe ich den Beweis dafür. Ich drücke mich vor meiner Pflicht. Ich bin zu nichts tauglich.“

In diesem Augenblick, oder vielleicht einen Augenblick später, merkte ich, dass Ransome in der Kajüte stand. Etwas in seinem Gesichtsausdruck ließ mich zusammenfahren. Ich wusste nicht, was es bedeutete. Ich rief:

„Es ist jemand gestorben!“

Jetzt war es an ihm zusammenzuschrecken.

„Gestorben? Nicht, dass ich wüsste. Ich bin erst vor zehn Minuten vorn gewesen, und da war noch niemand tot.“

„Sie haben mir einen solchen Schreck eingejagt“, sagte ich.

Seine Stimme hatte einen angenehmen Klang. Er erklärte, dass er nach unten gekommen sei, um das Bullauge in Herrn Burns’ Kammer zu schließen, falls es anfangen sollte zu regnen. Er habe nicht gewusst, dass ich in der Kajüte sei, fügte er hinzu.

„Wie sieht es draußen aus?“ fragte ich ihn.

„Sehr schwarz, Kap’tän. Es liegt entschieden etwas in der Luft.“

„Aus welcher Richtung kommt es?“

„Es zieht sich ringsherum zusammen.“

Ich wiederholte teilnahmslos, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt: „Ringsherum, ja, ganz entschieden.“ Ransome verweilte noch in der Kajüte, als hätte er dort etwas zu schaffen, könne sich jedoch nicht entschließen, es zu tun. Plötzlich sagte ich:

„Sie sind der Meinung, ich sollte an Deck sein?“ Er antwortete sogleich, aber ohne seinen Worten besonderen Nachdruck zu geben: „Ja, Kap’tän.“

Ich stand schnell auf, und er trat zurück, um mich vorbeizulassen. Als ich durch den Kajütgang schritt, hörte ich Herrn Burns rufen:

„Machen Sie die Tür von meiner Kammer zu, Steward, ja?“, und Ransome etwas überrascht: „Gewiss, gern.“

Ich dachte, alle meine Gefühle wären schon vollkommen abgestumpft. Aber an Deck zu sein, fiel mir ebenso schwer wie je. Das Schiff war von der undurchdringlichen Finsternis so dicht umgeben, dass es schien, man müsste – wenn man die Hand über Bord hielt – in irgendeine unirdische Substanz greifen. Es wirkte zugleich unbeschreiblich grauenhaft und unsagbar geheimnisvoll. Der matte Schein der wenigen Sterne über uns fiel nur auf das Schiff – das Wasser gab keinen einzigen Lichtreflex wieder – ihr Licht drang in einzelnen Strahlen durch eine Luft, die zu Ruß verwandelt war. Eine solche Erscheinung hatte ich noch nie erlebt, sie gab keine Andeutung, aus welcher Richtung der Wettersturz kommen könnte, es war, als würde man von allen Seiten von einer drohenden Gefahr eingekreist.

Am Ruder war noch immer niemand. Die Unbeweglichkeit aller Dinge war vollkommen. Wenn die Luft schwarz geworden war, so konnte sich das Meer eben so gut in eine feste Masse verwandelt haben. Es hatte keinen Zweck, in irgendeine Himmelsrichtung zu blicken, um nach irgendeinem Zeichen Ausschau zu halten, oder sich den Kopf zu zerbrechen, wie nahe der kritische Augenblick sei. Wenn die Zeit gekommen war, würde die Finsternis lautlos das bisschen Sternenlicht, das noch auf das Schiff herab fiel, verhüllen, und das Ende aller Dinge würde kommen, ohne einen Seufzer, ohne eine Regung oder irgendeinen Laut, und unsere Herzen würden aufhören zu schlagen wie abgelaufene Uhren.

Es war unmöglich, dieses Gefühl des drohenden Endes abzuschütteln. Die Ruhe, die über mich kam, war ein Vorgeschmack der völligen Auflösung. Sie verlieh mir einen gewissen Trost, als hätte sich meine Seele plötzlich mit einer Ewigkeit lichtloser Stille abgefunden.

In meiner seelischen Auflösung blieb der Seemannsinstinkt allein lebendig. Ich ging von der Schanze hinab aufs Deck. Das Sternenlicht schien zu verlöschen, ehe es diesen Fleck erreichte, aber als ich ruhig fragte: „Seid ihr alle da?“ konnte ich schemenhafte Gestalten erkennen, die sich rings um mich aufrichteten, sehr wenige, sehr undeutliche, und eine Stimme sagte: „Alle da, Kap’tän.“ Eine zweite verbesserte ängstlich:

„Alle, die zu etwas taugen, Kap’tän.“

Beide Stimmen waren sehr ruhig und klanglos, ohne besonders eifrig oder mutlos zu sein. Sehr sachliche Stimmen.

„Wir müssen versuchen, das Großsegel zu bergen“', sagte ich.

Die Schatten entfernten sich schwankend und wortlos. Diese Leute waren nur die Gespenster ihrer selbst, und wenn sie an einem Tauende hingen, würden sie nicht schwerer wiegen als ein Häufchen Gespenster. In der Tat, wenn je ein Segel durch seelische Kraft allein geborgen wurde, so war es dieses, denn es waren wirklich für diese Aufgabe nicht mehr genügend Muskeln auf dem ganzen Schiff, geschweige denn in diesen paar elenden Geschöpfen an Deck. Natürlich übernahm ich die Führung bei der Arbeit. Sie schleppten sich mir nach von Tau zu Tau, stolpernd und keuchend. Wie Titanen mühten sie sich ab. Eine Stunde wenigstens waren wir damit beschäftigt, und während der ganzen Zeit war kein Laut in dem schwarzen Weltall zu hören. Als die letzte Gording dicht geholt war – meine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt –, konnte ich die Gestalten erschöpfter Männer erkennen, die über die Reling hingen und auf Lukendeckeln zusammengekauert saßen. Einer hing über dem achteren Gangspill und rang nach Atem, während ich wie ein starker Fels zwischen ihnen stand, immun gegen physische Krankheit, nur meine Seele war krank. Ich wartete einige Minuten und kämpfte gegen die Schwere meiner Sünden, gegen das Gefühl meiner Unwürdigkeit, dann sagte ich:

„Jetzt, Leute, wollen wir nach achtern gehen und die Kreuzrah vierkant brassen. Das ist ungefähr alles, war wir für das Schiff noch tun können, und im Übrigen muss es sehen, wie es durchkommt.“

VI

Wie wir alle auf die Schanze gingen, fiel es mir ein, dass ein Mann am Ruder sein müsste. Ich erhob die Stimme, aber es war kaum mehr als ein Flüstern, und im Licht der Hecklaterne tauchte lautlos ein geduldiger Geist auf, in einem von Fieber verwüsteten Körper. Sein Kopf mit den hohlen Augen leuchtete in der Dunkelheit, die unsere Welt und das ganze Weltall verschlungen hatte. Der entblößte Unterarm, der über den oberen Speichen ausgestreckt war, schien mit einem eigenen Licht zu schimmern.

Dieser leuchtenden Erscheinung sagte ich leise: „Ruder mittschiffs, ja?“

Sie antwortete im Tone geduldig ertragenen Leidens: „Liegt mittschiffs, Kap’tän.“

Dann ging ich auf das Quarterdeck hinab. Es war unmöglich, zu sagen, aus welcher Richtung der Schlag kommen würde. Sah man sich im Schiff um, so war es wie das Hineinschauen in einen schwarzen, grundlosen Schacht. Der Blick verlor sich in unfallbare Tiefen.

Ich wollte feststellen, ob die Enden vom Deck aufgeschossen worden waren. Das konnte man nur durch tastendes Vorwärtssehreiten tun. Während ich vorsichtig weiter schritt, stieß ich gegen einen Mann, in dem ich Ransome erkannte. Er besaß eine unverminderte physische Festigkeit, die mir bei der Berührung mit ihm deutlich wurde. Er stand schweigend gegen das achtere Gangspill gelehnt. Es war mir wie eine Offenbarung. Ich erkannte in ihm die zusammengebrochene, nach Atem ringende Gestalt, die ich bemerkt hatte, ehe wir auf das Schanzdeck gingen.

„Sie haben beim Bergen des Großsegels geholfen!“ rief ich leise.

„Ja, Kap’tän“, erklang seine ruhige Stimme.

„Aber Mensch! Was fällt Ihnen ein! Das dürfen Sie doch nicht!“

Nach einer Pause stimmte er zu. „Ja, ich dürfte es wohl nicht.“ Dann nach einem abermaligen Schweigen fügte er schnell zwischen den verräterischen kurzen Atemzügen hinzu: „Jetzt geht es mir wieder gut.“

Sonst konnte ich niemand sehen oder hören, aber als ich rief, antwortete mir ein trauriges Gemurmel vom Quarterdeck, auf welchem Schatten hierhin und dorthin zu schwanken schienen. Ich befahl, alle Fallen an Deck aufzuschießen, klar zum Fieren.

„Dafür werde ich schon sorgen“, erbot sich Ransome mit seiner natürlichen, angenehmen Stimme, die einen tröstete und wiederum irgendwie Mitleid erweckte.

Der Mann hätte sich jetzt hinlegen müssen, um sich von den Strapazen zu erholen, und es war eigentlich meine Pflicht, darauf zu bestehen. Aber vielleicht hätte er mir nicht gehorcht. Ich hatte nicht die Willenskraft, es zu versuchen. Ich sagte nur:

„Aber recht ruhig und langsam, Ransome.“

Ich begab mich auf die Schanze zurück und ging auf Gambril zu. Sein Gesicht, in welches das Licht tiefe Schatten grub, sah furchtbar aus, wie für immer zum Schweigen gebracht. Ich fragte ihn, wie es ihm ginge, erwartete jedoch kaum eine Antwort. Darum war ich erstaunt über seine verhältnismäßig große Gesprächigkeit.

„Diese Schüttelanfälle machen mich so schwach wie ’ne Fliege, Kap’tän“, sagte er und bewahrte dabei großartig jene Miene der Gleichgültigkeit gegen alles, was nichts mit seinem Dienst zu tun hatte, und die ein Rudersmann immer haben muss. „Und ehe ich mir wieder erholen kann, kommt schon wieder so’n Hitzeanfall und wirft mir von neuem über den Haufen.“

Er seufzte. Sein Ton war nicht etwa klagend, aber schon seine Worte genügten, mir einen Stich ins Herz zu geben. Sie ließen mich eine Weile verstummen. Als das quälende Gefühl nachgelassen hatte, fragte ich:

„Meinen Sie, dass Sie kräftig genug sind, zu verhindern, dass das Ruder herumschlägt, wenn das Schiff Fahrt über den Achtersteven bekommt? Unter keinen Umständen darf etwas am Rudergeschirr jetzt zu Bruch gehen. Wir haben schon Schwierigkeiten genug, gegen die wir kämpfen müssen.“

Er antwortete mit einem leisen Ton der Müdigkeit in der Stimme, dass er kräftig genug sei festzuhalten. Er könne mir versprechen, dass er das Rad nicht loslassen würde. Mehr könne er nicht sagen.

In diesem Augenblick erschien Ransome ganz dicht neben mir, plötzlich war er aus der Dunkelheit hervorgetaucht, als wäre er soeben mit seinem ruhigen Gesicht und seiner angenehmen Stimme erschaffen worden.

Jedes Ende läg an Deck, sagte er, klar zum Holen, soweit man es durch Tasten feststellen könnte. Es war unmöglich, irgendetwas zu sehen. ‚Franzmann’ hatte sich vorn hingestellt. Er sagte, dass er noch etwas „Schwung“ in sich hätte.

Ein flüchtiges Lächeln veränderte einen Augenblick die klaren, festen Linien von Ransomes Mund. Mit seinen ernsten, klaren, grauen Augen, seinem heiteren Temperament, war er überhaupt ein unschätzbarer Mensch. Die Seele so fest wie die Muskeln seines Körpers.

Er war der einzige Mann an Bord (mich ausgenommen, doch musste ich meine Bewegungsfreiheit wahren), auf dessen Muskelkraft man sich noch verlassen konnte. Zuerst dachte ich, es wäre das beste, er ginge ans Ruder, aber da ich den schrecklichen Feind kannte, den er mit sich tragen musste, zögerte ich. In meiner Unkenntnis der Physiologie fiel es mir ein, dass er plötzlich in einem entscheidenden Augenblick vor Aufregung sterben könnte.

Während dieser grausige Gedanke mich zurückhielt, die Worte, die mir auf der Zunge schwebten, auszusprechen, trat Ransome zwei Schritte zurück und verschwand vor meinen Augen.

Sofort packte mich eine Unruhe, als ob mir eine Stütze entzogen worden wäre. Auch ich schritt nach vorn, außerhalb des Lichtkreises in die Finsternis, die wie eine Mauer vor mir stand. Mit einem Schritt war ich in sie eingedrungen. So muss die Finsternis vor der Erschaffung der Welt gewesen sein. Hinter mir hatte sich die Dunkelheit wieder zusammengeschlossen. Ich wusste, dass ich für den Rudersmann unsichtbar geworden war. Auch ich konnte nichts sehen. Er war allein, ich war allein, ein jeder war allein auf seinem Platz. Jede Form war ebenfalls verschwunden, Spieren, Segel, Püttings, Reling, alles war in der entsetzlichen Gleichmäßigkeit dieser absoluten Nacht ausgelöscht.

Ein Blitzstrahl wäre eine Befreiung gewesen – physisch, meine ich. Ich hätte darum gebetet, wenn mir nicht bange vor dem Donner gewesen wäre. In dem gespannten Schweigen war mir, als müsste der erste Donnerschlag mich in Staub verwandeln.

Und ein Donnerschlag war höchst wahrscheinlich das nächste, was kommen würde. Ich wartete in furchtbarer Spannung. Nichts geschah. Es war zum Wahnsinnigwerden. Aber an einem dumpfen, zunehmenden Schmerz im unteren Teil meines Gesichts merkte ich, dass ich weiß Gott wie lange schon wie irrsinnig mit den Zähnen geknirscht hatte.

Es ist merkwürdig, dass ich es nicht gemerkt hatte; aber so war es. Mit einer Anstrengung, die alle meine Sinne in Anspruch nahm, bekam ich es fertig, meine Kiefer stillzuhalten. Es bedurfte meiner ganzen Aufmerksamkeit, und während ich damit beschäftigt war, quälten mich sonderbar unregelmäßige, leise klopfende Geräusche an Deck. Man hörte sie einzeln, paarweise, in Gruppen. Während ich mir über dieses mysteriöse teuflische Treiben den Kopf zerbrach, erhielt ich einen leichten Schlag unter mein linkes Auge und fühlte, wie eine riesige Träne mir die Wange herab lief. Regentropfen. Riesige. Vorboten irgendeines Ereignisses. Tapp. Tapp. Tapp. Ich drehte mich um und wandte mich an Gambril mit der inständigen Bitte, „sich ja ans Rad zu klammern“. Aber ich konnte vor Erregung kaum sprechen. Der verhängnisvolle Augenblick war gekommen. Ich hielt den Atem an. Das leise Klopfen hatte so plötzlich aufgehört wie es gekommen war, und wieder trat ein Moment unerträglicher Spannung ein, die wie eine abermalige Drehung der Folterschraube war. Ich glaube zwar nicht, dass ich je geschrien hätte, aber ich erinnere mich noch, wie überzeugt ich war, dass mir nichts anderes übrig bliebe als zu schreien.

Plötzlich – wie soll ich es erklären? – nun, plötzlich verwandelte sich die Finsternis in Wasser. Das ist das einzig richtige Bild. Ein schwerer Schauer, ein Wolkenbruch, kommt mit Geräusch heran. Man hört sein Nahen auf See, und ich glaube bestimmt, auch in der Luft. Aber dies war anders. Ohne vorhergehendes Flüstern oder Rauschen und selbst ohne die Spur eines Anpralls wurde ich im Augenblick bis auf die Haut durchnässt. Das war nicht sehr schwer, denn ich trug nur meinen Schlafanzug. Mein Haar war sofort voll Wasser, Wasser rieselte auf meiner Haut, es füllte mir die Nase, die Ohren, die Augen. In einer Viertelsekunde hatte ich eine ganze Menge davon geschluckt.

Gambril erstickte es förmlich. Er hustete jammervoll, es war das klägliche Husten eines kranken Mannes. Ich sah ihn, wie man einen Fisch in einem Aquarium im Lichte einer elektrischen Birne sieht, eine flüchtige phosphoreszierende Gestalt. Nur dass er nicht fortglitt. Aber etwas anderes geschah. Beide Kompasslaternen gingen aus. Vermutlich war das Wasser hineingedrungen, obgleich ich es kaum für möglich gehalten hätte, denn die Haube passte vorzüglich.

Der letzte Lichtschimmer im Weltall war verschwunden, begleitet von einem leisen, bestürzten Ausruf Gambrils. Ich tastete nach ihm und packte ihn am Arm. Wie erschreckend abgezehrt er war!

„Es schadet nichts“, sagte ich. „Sie brauchen kein Licht. Sie müssen nur immer das Schiff platt vor dem Wind halten, wenn er kommt. Verstehen Sie?“

„Ay, ay, Kap’tän ... Aber ich möchte doch Licht haben“, fügte er nervös hinzu.

Die ganze Zeit über blieb das Schiff fest wie ein Felsen. Der Lärm des Wassers, das die Segel und Spieren herablief und sich über die Schanze ergoss, hatte jäh aufgehört. Die Speigatten gurgelten und schluchzten noch eine Weile, und dann verriet die vollkommene Stille zusammen mit der vollkommenen Regungslosigkeit, dass der Bann unserer Hilflosigkeit noch ungebrochen war, dass wir noch immer am Rande irgendeiner gewaltsamen Krise schwebten, die in der Finsternis lauerte.

Ruhelos lief ich nach vorn. Ich brauchte kein Licht, um völlig sicher an Deck meines zum Unglück bestimmten ersten Schiffes auf und ab gehen zu können. Jede Faser, jeder Quadratmeter seines Decks, alle Planken. Stöße waren mir unauslöschlich ins Gehirn eingeprägt. Und trotzdem stolperte ich plötzlich über etwas und fiel der Länge nach auf Hände und Gesicht.

Es war etwas Großes und Lebendes. Kein Hund – eher ein Schaf. Aber es waren keine Tiere auf dem Schiff. Wie könnte ein Tier ... Zu allem anderen kam noch dieses Phantastische, Grauenvolle, und es war zu viel für mich. Die Haare standen mir zu Berge, als ich mich erhob. Ich war zu Tode erschrocken – nicht wie ein Mann erschrocken ist, während sich sein Verstand, seine Vernunft dagegen auflehnen wollen, sondern vollkommen schrankenlos und gleichsam naiv erschrocken – wie ein kleines Kind.

Ich konnte es sehen – jenes Ding! Die Dunkelheit war etwas weniger dicht geworden – soviel hatte sich ja soeben in Wasser verwandelt! Da war es! Aber ich kam nicht auf die Idee, dass es Herr Burns sein könnte, der auf allen Vieren den Niedergang hinaufgekrochen kam, erst als er aufstand, und selbst dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf, es sei ein Bär.

Er brummte auch wie ein Bär, als ich ihn umschlang. Er hatte sich in einen gewaltigen Winterüberzieher aus irgendeinem wolligen Stoff gehüllt, der viel zu schwer für seinen geschwächten Körper war. Durch den dicken Stoff konnte ich kaum seine unglaublich schmächtige, zu einer Latte abgemagerte Gestalt fühlen, aber sein Brummen hatte Tiefe und Gehalt: „Verflucht stummes Schiff mit einer feigen, auf Zehenspitzen schleichenden Bande bemannt! Wo bleibt denn der Gleichschritt beim Brassen? Kann denn keiner von den gottverlassenen Süßwassermatrosen mehr aussingen beim Holen der Enden?“

„Das Umherkriechen hat keinen Zweck, Kap’tän“, griff er mich direkt an. „An dem Mordbuben kann man nicht vorbei schleichen. Das geht nicht. Sie müssen ihm unerschrocken entgegentreten, so wie ich es tat. Unerschrockenheit fehlt Ihnen. Zeigen Sie ihm, dass Sie sich den Deibel was aus seinen verdammten Streichen machen. Schlagen Sie einen Höllenlärm.“

„Großer Gott! Herr Burns“, rief ich ärgerlich. „Was in aller Welt machen Sie? Was soll das bedeuten, in Ihrem Zustand an Deck zu kommen?“

„Das bedeutet es! Unerschrockenheit! Das einzige Mittel, dem alten schikanierenden Schurken Angst einzujagen!“

Während er noch brummte, schob ich ihn gegen die Reling. „Halten Sie sich daran fest“, sagte ich barsch. Ich wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich verließ ihn eilig, um zu Gambril zu gehen, der mit schwacher Stimme gerufen hatte, er glaube, es komme oben etwas Wind auf. In der Tat glaubte ich hoch oben ein schwaches Schlagen von nassem Segeltuch, das Klappern eines Kettengliedes gegen den Mast gehört zu haben.

In der Totenstille der Luft um mich waren es unheimliche, beängstigende Laute. Plötzlich fiel mir ein, wie oft ich gehört hatte, dass ganze Stengen fortgerissen worden waren, während an Deck nicht genügend Wind war, um ein Streichholz auszublasen.

„Ich kann die oberen Segel nicht ausmachen, Kap'tän“, erklärte Gambril mit zitternder Stimme.

„Halten Sie nur das Ruder fest. Es wird schon gehen“, sagte ich aufmunternd.

Der arme Mann hatte den Kopf verloren. Mir ging es eigentlich auch nicht viel besser. Es war der Moment höchster Spannung, die sich in einem Gefühl der Erleichterung auslöste, als ich plötzlich die Bewegung des Schiffes unter meinen Füßen fühlte. Ich hörte deutlich das Surren des Windes oben, das leise Knarren der Stengen, als sie den Winddruck aufnahmen, lange ehe ich das geringste Lüftchen auf meinem Gesicht spüren konnte, das ich nach achtern gewandt hatte, gespannt und ohne etwas zu sehen, wie das Gesicht eines Blinden.

Plötzlich füllte ein lauter klingender Ton unsere Ohren, die Finsternis begann sich gegen unsere Körper zu drängen und ließ sie vor Kälte zusammenschauern. Gambril und ich zitterten in unserer durchnässten, an unseren Körper angeklatschten Kleidung aus dünner Baumwolle. Ich sagte zu ihm:

„Sie brauchen sich keine Sorge zu machen, mein Lieber, Sie müssen nur das Schiff platt vor dem Wind halten. Das können Sie doch sicher. Ein Kind könnte das Schiff bei dieser glatten See steuern.“

„Ja, ein gesundes Kind“, murmelte er. Und ich schämte mich, von dem Fieber übergangen worden zu sein, das einen jeden, mich ausgenommen, seiner Kraft beraubt hatte, damit meine Zerknirschung um so bitterer, das Gefühl meiner Unwürdigkeit drückender und die Empfindung meiner Verantwortung noch schwerer zu ertragen sei.

Bei der ruhigen See war das Schiff sofort ziemlich schnell vorwärts gekommen. Ich fühlte, wie es durch das Wasser glitt, lautlos, ein geheimnisvolles Rauschen längsseits an der Bordwand ausgenommen. Sonst war keine Bewegung zu, merken, weder Stampfen noch Schlingern. Es lag etwas Entmutigendes in dieser völligen Ruhelage, die nun achtzehn Tage angehalten hatte, denn nie, nie hatten wir genügend Wind gehabt, um nur die geringste Fahrt durchs Wasser zu machen. Plötzlich frischte der Wind auf. Ich dachte, es sei höchste Zeit, Herrn Burns von Deck zu schaffen. Er machte mich nervös, denn ich betrachtete ihn als einen Irrsinnigen, der höchstwahrscheinlich anfangen würde, auf dem Schiff umherzuwandern, und sich dabei ein Bein brechen oder über Bord fallen würde.

Ich war aufrichtig froh, als ich fand, dass er noch ganz vernünftig dort stand, wo ich ihn gelassen hatte; und sich an der Reling festhielt. Er murmelte jedoch geheimnisvoll vor sich hin.

Das war beunruhigend. Ich bemerkte in einem sehr sachlichen Ton:

„Wir haben noch nie so viel Wind gehabt, seitdem wir die Reede verließen.“

„Es ist auch etwas Herz darin“, brummte er weise. Es war die Bemerkung eines Seemannes, der vollkommen bei gesundem Verstand ist. Aber er fügte sofort hinzu: „Es war die höchste Zeit, dass ich an Deck kam. Dafür – gerade dafür habe ich meine Kraft gespart. Verstehen Sie, Kap’tän?“

Ich sagte ja, deutete ihm aber dann an, dass ich ihm riete, hinunterzugehen und sich auszuruhen.

Seine Antwort darauf war ein entrüstetes: „Nach unten gehen! Ich denke nicht daran, Kap’tän!“

Angenehm! Er war eine schreckliche Plage. Und plötzlich fing er an zu disputieren. In der Dunkelheit konnte ich ihm seine verrückte Erregung anmerken.

„Sie verstehen nicht, wie man das anfangen muss, Kap’tän. Wie sollten Sie auch? All dieses Flüstern und Auf-den-Zehenspitzen-Gehen hat keinen Zweck. Glauben Sie ja nicht, dass Sie an einem so schlauen, gerissenen, üblen Kerl, wie der es war, vorbei schleichen können.

Sie haben ihn niemals sprechen hören. Die Haare standen einem zu Berge. Nein! Nein! Verrückt war der nicht! Ebenso wenig verrückt wie ich. Einfach durch und durch schlecht war er. So schlecht, dass die meisten Menschen Angst vor ihm hatten. Ich werde Ihnen sagen, was er war. Weiter nichts als ein gemeiner Dieb und Mörder. Und glauben Sie, dass er sich jetzt verändert hat, weil er tot ist? Nein, der nicht! Seine Leiche liegt in hundert Faden Tiefe, aber er ist genau derselbe geblieben ... 8° 20' nördlicher Breite.“

Er schnaufte empört. Während er tobte, hatte ich mit müder Resignation bemerkt, dass die Brise etwas nachgelassen hatte. Er war schon wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt.

„Ich hätte den Kerl über Bord werfen müssen wie einen Hund. Nur der Leute wegen tat ich es nicht ... Stellen Sie sich bloß vor, die Totenandacht für ein solches Biest lesen zu müssen! ... ‚Unser dahingeschiedener Bruder’ ... Ich hätte am liebsten gelacht. Das konnte er nicht ertragen. Ich bin wohl der einzige, der jemals den Mut gehabt hat, ihm ins Gesicht zu lachen. Als er krank wurde, hatte er Angst davor ... dieser ... Bruder ... Bruder! ... ‚dahingeschiedener Bruder’... Eher würde ich einen Haifisch Bruder nennen!“

Die Brise hatte so plötzlich aufgehört, dass die Fahrt im Schiff die nassen, schweren Segel gegen die Masten klatschen ließ. Jetzt hatte diese Totenflaute uns schon wieder gepackt! Es schien kein Entrinnen möglich.

„Hallo!“ rief Herr Burns erschrocken. „Schon wieder Flaute!“

Ich sprach mit ihm, als hätte er seinen Verstand.

„Ja, das haben wir seit siebzehn Tagen, Herr Bums“, sagte ich verbittert. „Eine schwache Brise, dann Flaute, und gleich werden Sie erleben, dass das Schiff anfängt abzufallen, weiß der Teufel wohin.“

Er griff das Wort auf. „Der alte gerissene Teufel“, schrie er ohrenbetäubend und brach in ein derartig lautes Gelächter aus, wie ich es noch nie gehört hatte. Es war ein provozierendes, höhnisches Lachen, bei dem er sich in einem unheimlich kreischenden, herausfordernden Tone überschrie. Aufs äußerste entsetzt, trat ich ein paar Schritte zurück.

Sofort ließ sich eine Bewegung an Deck, ein bestürztes Gemurmel vernehmen. Unter uns rief eine unglückliche Stimme in der Dunkelheit: „Wer ist da verrückt geworden?“

Vielleicht dachten sie, dass es ihr Kapitän war! „Stürzen“ wäre nicht das richtige Wort, um die höchste Eile auszudrücken, deren die armen Kerle noch fähig waren, aber in erstaunlich kurzer Zeit waren sie – alle, die noch gehen konnten – auf dem Schanzdeck zusammengekommen.

Ich schrie ihnen zu: „Der Erste Steuermann. Haltet ihn fest, zwei von euch...“

Ich dachte, diese Geschichte würde in einem furchtbaren Ringkampf oder etwas ähnlichem enden. Aber Herr Burns hörte plötzlich mit seinem höhnischen Geschrei auf, wandte sich den Männern wütend zu und brüllte:

„Aha! Ihr feigen Hunde ihr! Endlich habt ihr die Sprache gefunden, ja? Ich dachte, ihr wäret alle stumm. Nun also – lacht! Lacht, sage ich euch! Jetzt alle zusammen. Eins – zwei – drei – lacht!“

Ein Augenblick Schweigen erfolgte – ein so tiefes Schweigen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann sagte Ransomes gelassene Stimme freundlich:

„Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden, Kap’tän –“ Die kleine regungslose Gruppe rührte sich mit einem leisen Gemurmel der Erleichterung. „Ich habe ihn unter die Arme gefasst. Einer von euch nimmt seine Beine.“

Ja. Es war eine Erleichterung. Er war vorübergehend zum Schweigen gebracht – vorübergehend. Ich hätte nicht noch einmal das irrsinnige Gekreisch ertragen können. Das wusste ich bestimmt; und jetzt beglückte uns Gambril – der herbe Gambril – mit einem zweiten Konzert. Er begann nach Ablösung zu schreien. Seine Stimme klang wehklagend durch die Dunkelheit: „Jemand muss achteraus kommen! Ich kann das nicht mehr aushalten. Gleich wird es wieder losgehen, und ich kann nicht...“

Ich stürzte selbst nach achtern und begegnete auf dem Wege dorthin der Böe, deren Nahen Gambril schon von weitem vernommen hatte und welche nun die Segel am Großmast blähte und ein dumpfes, schussartiges Knallen hervorrief, von dem Ächzen der Spieren begleitet. Ich kam gerade noch zur Zeit, um das Steuerrad zu ergreifen, während ‚Franzmann’, der mir gefolgt war, den zusammenbrechenden Gambril auffing. Er schleifte seinen Kameraden aus dem Weg, ermahnte ihn, dort still zu liegen, wo er lag, trat dann zu mir, um mich abzulösen und fragte ruhig:

,.Wie soll ich steuern, Kap’tän?“

„Recht so! Vor dem Wind. Ich werde Ihnen gleich Licht holen.“

Aber als ich nach vorn ging, begegnete ich Ransome, der eine Reservekompasslampe brachte. Dieser Mann achtete auf alles, sorgte für alles, spendete Trost, wohin er ging. Im Vorbeigehen bemerkte er in einem beruhigenden Ton, dass die Sterne herauskämen. So war es. Die Brise fegte schon den schwarzen Himmel rein und brach das träge Schweigen des Meeres.

Der Wall fürchterlicher Stille, die uns so viele Tage eingeschlossen hatte, als wären wir verflucht, war durchbrochen. Das fühlte ich. Ich ließ mich auf die Deckslichtbank fallen. Ein feiner weißer Schaumkamm, dünn, sehr dünn, war längsseits zu sehen. Der erste seit ewigen Zeiten – seit ewigen Zeiten. Ich hätte in Hochrufe ausbrechen können, hätte sich nicht das Schuldgefühl heimlich an alle meine Gedanken geheftet. Ransome stand vor mir.

„Wie geht es dem Ersten Steuermann?“ fragte ich besorgt. „Ist er noch bewusstlos?“

„Nun, Kap’tän – es ist merkwürdig.“ Ransome war sich augenscheinlich über etwas nicht klar. „Er hat noch kein Wort gesprochen, und seine Augen sind geschlossen. Aber es scheint eher ein fester Schlaf als etwas anderes zu sein.“

Ich ließ diese Ansicht als die am wenigsten beunruhigende oder jedenfalls am wenigsten störende gelten. Ob es tiefe Ohnmacht oder tiefer Schlaf war, Herr Burns musste fürs erste sich selbst überlassen bleiben. Ransome bemerkte plötzlich:

„Ich glaube, Sie brauchen einen Rock, Kap’tän.“

„Ich glaube auch“, seufzte ich auf.

Aber ich rührte mich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich vor allen Dingen andere Glieder brauchte. Meine Arme und Beine schienen mir vollkommen unbrauchbar, wie zerschlagen. Sie taten nicht einmal weh. Aber als Ransome meinen Rock heraufbrachte, stand ich doch auf, um ihn anzuziehen. Und als er meinte, er müsse wohl jetzt „Gambril nach vorn schaffen“, sagte ich:

„Schön. Ich werde Ihnen helfen, ihn hinunter aufs Mitteldeck zu bringen.“

Ich fand, dass ich noch ganz gut imstande war zu helfen. Wir hoben zusammen Gambril auf. Er versuchte tapfer mitzuhelfen, aber die ganze Zeit fragte er mit kläglicher Stimme:

„Sie lassen mich nicht fallen, wenn wir zum Fallreep kommen, nicht wahr? Sie lassen mich nicht fallen, wenn wir zum Fallreep kommen, nicht wahr?“

Die Brise frischte immer mehr auf und wurde wunderbar stetig. Durch geschickte Bedienung des Ruders erreichten wir es, dass bei Tagesanbruch die Fockrah von allein herum schwang, und dann (da das Wasser glatt blieb) begannen wir die Enden für fest zu belegen. Von den vier Leuten, die ich in der Nacht gehabt hatte, sah ich jetzt nur noch zwei an Deck. Ich erkundigte mich nicht nach den anderen. Sie hatten sich unterkriegen lassen. Nur vorübergehend, hoffte ich.

Unsere verschiedenen Aufgaben vorn beschäftigten uns während Stunden, meine beiden Leute gingen so langsam und mussten so oft ausruhen. Einer von ihnen bemerkte, dass „jedes vermaledeite Ding auf dem Schiff hundertmal schwerer zu wiegen schien als sonst“. Dieses war die einzige Klage, die ihnen über die Lippen kam. Ich weiß nicht, was wir ohne Ransome gemacht hätten. Er arbeitete mit, ebenfalls schweigend, mit einem leichten, wie auf den Lippen erfrorenen Lächeln. Von Zeit zu Zeit ermahnte ich ihn leise: „Sachte“ – „langsam, Ransome“ – und bekam einen schnellen Blick als Antwort.

Nachdem wir alles getan hatten, was wir konnten, um uns zu sichern, verschwand er in seine Küche. Etwas später, als ich nach vorn ging, um mich dort umzusehen, erblickte ich ihn durch die offene Tür. Er saß aufrecht auf dem Kasten vor dem Herd mit dem Kopf gegen die Schottwand zurückgelehnt. Seine Augen waren geschlossen; seine tüchtigen Hände hatten sein leichtes baumwollenes Hemd aufgerissen und entblößten tragisch seine mächtige Brust, die sich mühsam und schmerzvoll hob und senkte. Er hatte mich nicht gehört.

Ich zog mich leise zurück und ging sofort nach dem Schanzdeck, um ‚Franzmann’ abzulösen, der bereits anfing, sehr elend auszusehen. Er übergab mir ganz formell den Kurs und versuchte, sich mit elastischem Schritt zu entfernen, aber er taumelte zweimal, ehe er meinen Blicken entschwunden war.

Und dann blieb ich ganz allein achtern und steuerte mein Schiff, das vor dem Wind lief, dann und wann mit einem elastischen Sprung und sogar etwas rollend. Nach einer Weile erschien Ransome vor mir mit einem Tablett. Der Anblick des Essens erweckte plötzlich einen Heißhunger in mir. Er nahm das Steuerrad, während ich mich auf die Heckgräting setzte, um zu frühstücken.

„Diese Brise scheint die ganze Gesellschaft vollkommen umgeworfen zu haben“, bemerkte er leise. „Sie hat sie einfach niedergestreckt – allesamt.“

„Ja“, sagte ich. „Wir beide sind eigentlich die einzigen gesunden Menschen auf dem Schiff.“

„,Franzmann’ sagt, er habe noch etwas ‚Schwung’ in sich. Ich weiß nicht. Viel kann es nicht sein“, fuhr Ransome mit seinem wehmütigen Lächeln fort. „Braver kleiner Kerl. Aber wenn nun dieser Wind umspringen sollte, wenn wir dicht an Land sind – was machen wir?“

„Sollte der Wind uns etwa noch Scherereien machen, wenn wir schon dicht vor Land sind, wird das Schiff entweder auf den Strand laufen oder die Masten verlieren oder beides. Wir werden nichts mit ihm machen können. Es läuft jetzt schon mit uns davon. Wir können nichts weiter tun als steuern. Es ist eben ein Schiff ohne Mannschaft.“

„Ja. Alle niedergestreckt“, wiederholte Ransome ruhig. „Hin und wieder einmal sehe ich nach ihnen, aber leider ist es herzlich wenig, was ich für sie tun kann.“

„Ich, das Schiff und alle an Bord verdanken Ihnen sehr viel, Ransome“, sagte ich warm.

Er tat so, als hörte er nicht und steuerte schweigend, bis ich so weit war, dass ich ihn ablösen konnte. Dann übergab er mir das Rad, nahm das Tablett, und zum Abschied teilte er mir mit, dass Herr Burns wach sei und Lust zu haben scheine, an Deck zu kommen.

„Ich weiß nicht, wie ich ihn daran hindern soll. Ich kann nicht gut die ganze Zeit unten bleiben.“

Das war klar, dass er es nicht konnte. Und richtig, Herr Bums kam an Deck; mühsam schleifte er sich in seinem riesigen Überzieher nach achtern. Ich betrachtete ihn natürlich angstvoll. Diesen von den Ränken eines Toten phantasierenden Mann um mich zu haben, während ich ein wild dahin brausendes Schiff voll sterbender Leute steuerte, war eine ganz fürchterliche Aussicht.

Aber seine ersten Bemerkungen waren ihrem Sinn und dem Ton nach recht vernünftig. Anscheinend wusste er nichts mehr von der Szene, die sich in der vergangenen Nacht abgespielt hatte. Wenn er sich noch daran erinnerte, so verriet er sich mit keiner Silbe. Er sprach auch nicht viel. Er setzte sich schweigsam auf die Deckslichtbank und sah zuerst furchtbar elend aus; jedoch die starke Brise, die den letzten Rest meiner Mannschaft hingestreckt hatte, schien ihm mit jedem Windstoß neue Kraft einzublasen. Man konnte den Vorgang fast verfolgen.

Um seinen Verstand zu prüfen, sprach ich absichtlich von dem früheren Kapitän. Ich freute mich sehr, zu entdecken, dass Herr Burns kein übermäßiges Interesse für dieses Thema zeigte. Mit einem gewissen rachsüchtigen Behagen wiederholte er die alte Geschichte von den Sünden des Schurken und schloss dann unerwartet:

„Ich bin fest überzeugt, Kap’tän, dass er schon ein Jahr, bevor er starb, nicht mehr zurechnungsfähig war.“

Eine erstaunliche Genesung. Ich konnte ihr leider nicht die Bewunderung widmen, die sie verdiente, denn das Steuern nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Im Vergleich zu der trostlosen Schläfrigkeit der vorhergehenden Tage war dieses Tempo schwindelerregend. Zwei Schaumstreifen strömten hinter dem Heck ab, und herzhaft klang die Weise des Windes, die mir unter anderen Bedingungen alle Freude des Lebens bedeutet hätte. Jedes Mal wenn sich das aufgegeite Großsegel aufbauschte und mit Gewalt gegen die Rundhölzer drückte, so dass es Gefahr lief, aus den Lieken zu springen, sah mich Herr Burns furchtsam an.

„Was soll ich tun, Herr Burns? Wir können es weder setzen noch fortnehmen. Ich wünschte nur, das alte Ding ginge in Fetzen und damit fertig! Dieser grässliche Lärm macht mich ganz verrückt.“

Händeringend rief Herr Burns plötzlich:

„Wie wollen Sie das Schiff ohne Bedienung in den Hafen bringen?“

Das konnte ich ihm nicht sagen.

Nun – vierzig Stunden später hatten wir es geschafft. Durch die bannende Kraft von Herrn Burns’ furchtbarem Gelächter war der arglistige Geist zu Boden geworfen, der böse Bann gebrochen, der Fluch aufgehoben. Wir waren jetzt in den Händen einer gütigen und energischen Vorsehung. Ungestüm trieb sie uns vorwärts.

Die letzte Nacht werde ich nie vergessen; sie war dunkel, windig und ausgestirnt. Ich steuerte. Nachdem Herr Burns mir das heilige Versprechen abgenommen hatte, ihm einen Fußstoß zu geben, falls etwas geschähe, schlief er ungeniert an Deck ein, neben dem Kompass. Rekonvaleszenten brauchen Schlaf. Ransome saß gegen den Kreuzmast gelehnt, eine Decke über den Beinen, ganz still, aber ich glaube kaum, dass er einen Moment die Augen schloss. ‚Franzmann’, jene Verkörperung der Elastizität, der noch in dem Wahn lebte, dass ‚Schwung’ in ihm sei, hatte darauf bestanden, sich uns anzuschließen, aber das Gefühl der Disziplin veranlasste ihn, sich so weit wie möglich von uns hinzulegen, neben der Eimerbank.

Und ich steuerte, zu müde, um Sorge zu empfinden, zu müde, um einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Zuweilen fühlte ich eine wilde Freude, und dann sank mein Mut wieder unsagbar bei dem Gedanken an das Vorschiff am anderen Ende des dunklen Decks voll fieberkranker Leute – von denen einige im Sterben lagen. Durch meine Schuld. Aber es half nichts. Jetzt war nicht die Zeit für Selbstvorwürfe. Ich musste steuern.

Bei Morgengrauen flaute die Brise ab, um dann gleich ganz aufzuhören. Gegen fünf Uhr kehrte sie zurück, diesmal leicht genug, um mit ihr auf die Reede steuern zu können. Die aufgehende Sonne fand Herrn Burns zwischen zwei Taubündel geklemmt auf der Heckgräting sitzen, wo er aus der Tiefe seines Überziehers das Schiff mit ganz weißen, abgezehrten Händen steuerte, während Ransome und ich die Decks entlang stürzten, um all die Schoten und Fallen loszuwerfen und wegzufieren. Wir eilten dann hinauf auf die Back. Von der Anstrengung und vor lauter Nervosität lief uns der Schweiß über das Gesicht, während wir uns quälten, die Anker vor den Kran zu bringen. Ich wagte nicht, Ransome anzusehen, während wir Seite an Seite arbeiteten. Wir tauschten einige kurze Worte; ich konnte ihn neben mir keuchen hören und vermied es, in seine Richtung zu blicken, aus Angst, ihn tot hinfallen zu sehen, während er seine Kraft hingab – wofür? Entschieden für ein bestimmtes Ideal.

Der ganze Seemann war in ihm erwacht. Er brauchte keine Anleitung. Er wusste, was er zu tun hatte. Jede Anstrengung, jede Bewegung war konsequenter Heldenmut. Es kam mir nicht zu, einen dermaßen inspirierten Menschen anzusehen.

Endlich war alles fertig, und ich hörte ihn sagen: „Wäre es nicht richtig, ich ginge jetzt die Kettenstopper öffnen?“

„Ja, tun Sie es“, sagte ich. Und selbst dann sah ich ihn nicht an. Nach einer Weile erklang seine Stimme vom Hauptdeck:

Wenn es Ihnen jetzt recht ist, Kap’tän. Hier beim Ankerspill alles klar!“

Ich winkte Herrn Burns, das Ruder in Lee zulegen, und dann ließ ich beide Anker nacheinander fallen und überließ es dem Schiff, sich soviel Kette zu nehmen, wie es brauchte. Von den beiden Ketten rauschte fast alles aus, ehe das Schiff lag.

Die Segel kamen back, und der wahnsinnige Lärm über meinem Kopf hörte auf. Auf dem Schiff herrschte eine vollkommene Stille. Und während ich vorn stand, ein wenig benommen von der plötzlich eintretenden Ruhe, vernahm ich einmal, zweimal schwaches Stöhnen und unzusammenhängendes Gemurmel der Kranken im Vorschiff.

Da wir das Arztnotsignal am Kreuztope gesetzt hatten, lag das Schiff kaum, als auch schon drei Dampfbarkassen von verschiedenen Kriegsschiffen längsseits waren, und wenigstens fünf Schiffsärzte kletterten an Bord. Die kleine Gruppe stand und starrte das leere Hauptdeck hinauf und hinunter und dann nach oben – wo auch kein Mann zu sehen war.

Ich ging auf sie zu – eine einsame Gestalt in einem blaugrau gestreiften Schlafanzug und einem Tropenhelm auf dem Kopf. Sie waren enttäuscht, denn sie hatten operative Fälle erwartet. Jeder hatte sein Köfferchen mit Mordinstrumenten mitgebracht. Aber sie überwanden schnell die kleine Enttäuschung. Nach kaum fünf Minuten dampfte schon eine der Barkassen landeinwärts, um ein größeres Beiboot und einige Krankenhausleute für den Transport der Mannschaft zu bestellen. Die große Dampfpinasse fuhr zu ihrem Schiff zurück, um einige Matrosen zu holen, die mir meine Segel festmachen sollten.

Einer der Ärzte war an Bord geblieben. Als er mit einem undurchdringlichen Gesicht vom Vorschiff herauskam, bemerkte er meinen fragenden Blick.

„Es ist niemand tot da drin, wenn Sie das wissen wollen“, sagte er bedächtig. Dann fügte er in einem erstaunten Ton hinzu:

„Die ganze Mannschaft!“

„Und sehr schlimm?“

„Sehr schlimm“, bestätigte er. Er ließ seine Blicke umherschweifen. „Um Gotteswillen! Was ist das?“

„Das“, erwiderte ich mit einem Blick nach achtern, „ist Herr Burns, mein Erster Steuermann.“

Herr Burns mit seinem sterbenskrank aussehenden Kopf, der an dem dünnen Stiel seines mageren Halses nickte, war wirklich ein Anblick, vor dem man sich entsetzen konnte. Der Arzt fragte:

„Wird er nicht auch nach dem Krankenhaus gebracht?“

„Aber nein“, erwiderte ich scherzhaft. „Ehe der Großmast weg ist, kann Herr Bums nicht an Land gehen. Ich bin sehr stolz auf ihn. Er ist mein einziger Rekonvaleszent.“

„Sie sehen aus...“ begann der Arzt, während er mich prüfend ansah. Aber ich unterbrach ihn ärgerlich:

„Ich bin nicht krank.“

„Nein ... Sie sehen aber schlecht aus.“

,.Nun ja, ich bin seit siebzehn Tagen an Deck.“

„Siebzehn! ... Aber Sie müssen doch geschlafen haben.“

„Ich nehme es an. Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich bestimmt: Die letzten vierzig Stunden habe ich kein Auge zugetan.“

„Was Sie sagen! ... Sie werden wohl bald an Land gehen, nehme ich an?“

„Sobald ich kann. Ich habe eine Unmenge Geschäfte dort zu erledigen.“

Der Arzt ließ meine Hand fallen, die er, während wir sprachen, gehalten hatte, zog sein Notizbuch heraus, schrieb schnell einige Zeilen darin, riss die Seite heraus und reichte sie mir.

„Ich rate Ihnen, lassen Sie sich dieses Rezept machen, sobald Sie an Land kommen. Wenn ich mich nicht sehr irre, werden Sie es heute Abend brauchen.“

„Was ist es denn?" fragte ich misstrauisch.

„Ein Schlafmittel“, antwortete der Arzt kurz und ging mit teilnahmsvoller Miene auf Herrn Bums zu, mit dem er sich zu unterhalten begann.

Als ich hinunterging, um mich für meinen Gang an Land umzuziehen, folgte mir Ransome. Ich möchte entschuldigen, aber er wünsche auch an Land zu gehen und abzumustern.

Ich sah ihn überrascht an. Mit besorgter Miene wartete er auf meine Antwort.

„Sie wollen doch nicht mein Schiff verlassen!“ rief ich.

„Ja, das will ich, Kap’tän. Ich möchte irgendwohin gehen, wo ich ganz ruhig sein kann. Irgendwohin. Nach dem Krankenhaus meinetwegen.“

„Aber Ransome“, sagte ich. „Das ist mir ja ein schrecklicher Gedanke, mich von Ihnen zu trennen!“

„Ich muss aber gehen“, unterbrach er mich. „Es ist mein gutes Recht!“ Er rang nach Atem, und ein Ausdruck fast wilder Entschlossenheit glitt über sein Gesicht. Einen Augenblick lang war er ein ganz anderer Mensch. Und hinter der Vortrefflichkeit und Liebenswürdigkeit des Mannes erblickte ich die nackte Wirklichkeit der Dinge. Das Leben war ihm eine Gottesgabe – dieses unsichere, harte Leben – und er ängstigte sich ernstlich um seine Gesundheit.

„Natürlich dürfen Sie abmustern, wenn Sie es wünschen“, sagte ich schnell. „Nur muss ich Sie bitten, bis heute Nachmittag an Bord zu bleiben. Ich kann Herrn Burns nicht mehrere Stunden mutterseelenallein auf dem Schiff lassen.“

Er besänftigte sich sofort, und lächelnd versicherte er mir mit seiner natürlichen, angenehmen Stimme, dass er das sehr gut verstehe.

Als ich wieder an Deck ging, war alles für den Transport der Leute bereit. Es war die letzte Feuerprobe jener Episode, die meinen Charakter gereift und ausgeglichen hatte, ohne dass ich es wusste.

Es war furchtbar. Einer nach dem anderen wurden sie an mir vorbeigetragen – jeder war ein verkörperter Vorwurf der bittersten Art – bis alles in mir in Aufruhr war. Der arme ‚Franzmann’ war plötzlich vollständig zusammengebrochen. Er wurde in bewusstlosem Zustand fortgeschafft, schwer atmend, sein komisches Gesicht war entsetzlich gerötet und geschwollen. Mehr als je glich er Herrn Punch; allerdings einem schändlich betrunkenen Herrn Punch.

In dem Zustand des herben Gambrils war hingegen eine vorübergehende Besserung eingetreten. Er wollte durchaus nicht nach der Reling getragen werden – natürlich wurde er von beiden Seiten gestützt. Aber in dem Moment, wo man ihn über Bord hob, verfiel er in eine plötzliche, panikartige Angst und begann kläglich zu jammern:

„Dass sie mich nur nicht fallen lassen, Kap’tän! Dass sie mich nur nicht fallen lassen, Kap’tän!“, während ich andauernd beschwichtigend rief: „Nein, nein, Gambril! Das werden sie schon nicht tun! Das werden sie schon nicht tun!“

Die Situation war ohne Zweifel sehr lächerlich. Die Matrosen an Bord grinsten, während selbst Ransome (der sehr eifrig mithalf) sein wehmütiges Lächeln für einen flüchtigen Augenblick eine Spur verstärken musste.

In der Dampfpinasse fuhr ich an Land, und als ich einen Blick nach dem Schiff zurückwarf, sah ich, wie Herr Burns, noch immer in seinen gewaltigen wolligen Überzieher eingehüllt, aufrecht an der Reling stand. In dem hellen Sonnenschein wirkte seine gespensterhafte Gestalt noch merkwürdiger. Er sah aus wie eine abschreckende, sorgfältig aufgeputzte Vogelscheuche, die man auf dem Schanzdeck eines todgeweihten Schiffes aufgestellt hatte, um die Raubvögel von den Leichen fern zu halten.

In der Stadt war unsere Geschichte bereits bekannt geworden, und jedermann war außerordentlich entgegenkommend. Das Marineamt erließ mir die Hafengebühren, und da die Mannschaft eines havarierten Schiffes sich zufällig in dem Seemannsheim aufhielt, hatte ich keine Mühe, so viele Männer zu bekommen, wie ich brauchte. Aber als ich fragte, ob ich Kapitän Ellis einen Moment sprechen könnte, wurde mir in einem Ton des Bedauerns wegen meiner Unwissenheit mitgeteilt, dass unser Vize-Neptun den Abschied genommen und als Pensionierter nach der Heimat gefahren sei, ungefähr drei Wochen, nachdem ich den Hafen verlassen hatte. Ich nehme also an, dass meine Ernennung seine letzte offizielle Handlung war, diejenigen ausgenommen, die der tägliche Dienst mit sich brachte.

Es ist sonderbar, wie mir, als ich an Land kam, der elastische Gang, die glänzenden Augen und die Lebenskraft aller Leute auffielen. Es machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. Unter denen, die ich dort traf, war natürlich Kapitän Giles. Es wäre sehr merkwürdig gewesen, wenn ich ihm nicht begegnet wäre. Wenn er sich an Land aufhielt, war es seine regelmäßige Beschäftigung, jeden Vormittag einen längeren Spaziergang im Geschäftsviertel der Stadt zu machen.

Von weitem sah ich schon das Glitzern seiner goldenen Uhrkette auf der Brust. Er strahlte Wohlwollen aus.

„Was höre ich?“ fragte er mit einem freundlichen. ,onkelhaften’ Lächeln, nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten. „Einundzwanzig Tage von Bangkok?“

„Ist das alles, was Sie gehört haben?“ sagte ich. „Sie müssen mit mir essen kommen. Ich möchte Sie genau über das, was Sie mir eingebrockt haben, unterrichten.“

Er zögerte fast eine Minute.

„Schön – ich komme“, entschied er dann leutselig.

Wir gingen in das Hotel. Zu meinem Erstaunen fand ich, dass ich eine ganze Menge essen konnte. Dann, als abgeräumt war, erzählte ich Kapitän Giles die ganze Geschichte, von dem Augenblick an, als ich das Kommando übernommen hatte; die beruflichen, sowie die Gefühlsmomente schilderte ich, während er geduldig die dicke Zigarre rauchte, die ich ihm angeboten hatte.

Dann bemerkte er weise:

„Sie müssen jetzt ganz gehörig müde sein.“

„Nein,“ sagte ich, „nicht müde. Aber ich will Ihnen sagen, was ich empfinde. Ich fühle mich alt. Und ich bin es wohl auch. Ihr hier alle an Land kommt mir wie ausgelassene Burschen vor, die noch keine Sorgen gekannt haben.“

Er lächelte nicht. Er sah unerträglich musterhaft aus.

„Das gibt sich“, erklärte er. „Aber Sie sehen doch älter aus. Das stimmt.“

„Aha!“

„Nein! Nein! Die Sache ist die: Man muss sich aus nichts in der Welt zu viel machen, weder aus dem Guten noch aus dem Schlechten.“

„Also mit halber Kraft leben“, murmelte ich eigensinnig. „Nicht jeder bekommt das fertig.“

„Später werden Sie schon froh sein, wenn Sie das fertig bringen“, entgegnete er mit seiner überlegenen Miene. „Und nun noch etwas: Ein Mann muss seinem Missgeschick, seinen Irrtümern, seinem Gewissen und all diesen Dingen die Stirn bieten – denn wogegen hätte man sonst zu kämpfen?“

Ich schwieg. Ich weiß nicht, was er in meinem Gesicht las, aber er fragte unvermittelt:

„Nun? Sie sind doch nicht kleinmütig?“

„Das weiß Gott allein, Kapitän Giles“, antwortete ich aufrichtig.

„Na, na, Sie werden schon lernen, nicht kleinmütig zu sein“, sagte er ruhig. „Ein Mann muss alles lernen – und das ist es, was so viele junge Burschen nicht einsehen.“

„Aber ich bin doch kein junger Bursche mehr.“

„Nein“, gab er zu. „Fahren Sie bald ab?“

„Ich gehe gleich wieder an Bord“, sagte ich. „Ich werde einen Anker lichten und den anderen kurzstag hieven, sobald meine neue Mannschaft an Bord ist, und morgen gehe ich bei Tagesanbruch in See.“

„So?“ brummte Kapitän Giles beifällig. „So muss man es auch machen. Sie werden schon weiter kommen.“

„Was dachten Sie denn? Glaubten Sie, ich würde mich erst acht Tage an Land ausruhen?“ fragte ich, durch seinen Ton gereizt. „Für mich gibt es keine Ruhe, bis mein Schiff im Indischen Ozean ist, und selbst dann werde ich nicht viel haben.“

Er paffte verstimmt an seiner Zigarre, wie umgewandelt.

„Ja, so ist das Leben“, sagte er nachdenklich. Es war, als hätte man einen schweren Vorhang aufgezogen und ein ganz anderer Kapitän Giles wäre sichtbar geworden. Aber es war nur ein Moment, nur bis er gesagt hatte: „Verdammt wenig Ruhe hat jeder im Leben. Besser, man denkt nicht darüber nach.“

Wir standen auf, verließen das Hotel und trennten uns mit einem warmen Händedruck auf der Straße voneinander, gerade als er anfing, mich zum ersten Male seit unserer Bekanntschaft zu interessieren.

Das erste, was ich sah, als ich zum Schiff zurückkam, war Ransome, der auf dem Quarterdeck auf seiner sauber gelaschten Seekiste saß.

Ich winkte ihm, mir in die Messe zu folgen, wo ich mich hinsetzte, um einen Empfehlungsbrief an einen Herrn, den ich an Land kannte, zu schreiben.

Als ich fertig war, schob ich ihm den Brief über den Tisch zu. „Er kann Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie aus dem Krankenhaus kommen.“

Er nahm ihn und steckte ihn in die Tasche. Seine Blicke sahen weit über mich weg – ins Leere. Auf seinem Gesicht lag ein starrer, besorgter Ausdruck.

„Wie fühlen Sie sich jetzt?“ fragte ich.

„Augenblicklich geht es mir nicht schlecht, Kap’tän“, antwortete er mir steif. „Aber ich fürchte, es kommt noch –“ Das wehmütige Lächeln schwebte einen Augenblick wieder um seinen Mund. „Ich – ich habe eine Höllenangst um mein Herz, Kapitän.“

Ich ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. In seinen Augen, die mich nicht ansahen, lag ein gespannter Ausdruck. Er glich einem Mann, der auf einen warnenden Ruf horcht.

„Wollen Sie mir nicht die Hand geben, Ransome?“ fragte ich freundlich.

Ein Ausruf entschlüpfte ihm, er wurde dunkelrot, schüttelte mir kräftig die Hand – und im nächsten Moment war ich allein in der Kajüte und lauschte, wie er vorsichtig Schritt für Schritt die Niedergangstreppe hinaufging, in Todesangst, er könnte unversehens unser aller Feind in plötzlichen Zorn bringen, den er – das war sein schweres Los – mit Bewusstsein in seiner treuen Brust trug.

 

 

 

 weitere websites des Webmasters:

maritimbuch

https://maritimbuch.hpage.com/

maritimbuch.de

maritimbuch.klack.org/index

Juergen Ruszkowski_Hamburg-Rissen.klack.org
www.seamanstory/index

seamanstory.klack.org/index


Elbdorf Rissen

seemannsschicksale.klack.org

Jürgen Ruszkowski google
maritimbuch

seeleute.klack.org

 

seefahrtserinnerungen google

seefahrer.klack.orgtheologos.klack.org
salzwasserfahrten_hpageseefahrtserinnerungen klack.orgTheologisches bei Jürgen Ruszkowski

maritime_gelbe_Buchreihe_google

hafenrundfahrt.klack.org


sites.google.com/site/seefahrtstory

schiffsbild.klack-org

Diakone Rauhes Haus_/klack.org
seeleute_hpageschiffsbild.hpageRauhes Haus Diakone google
seamanstory_googleschiffsbild_google
Zur See_npage maritimbuch.erwähnte SchiffeRauhes Haus 1950er Jahre_google
zur_see_fahren_google seemannsmission google
unterwegs_hpagezeitzeugen_1945_npage


unterwegs_googlezeitzeugenbuch.klack.org

seemannsmission.klack.org

 maritime_gelbe_Buchreihe_klack_orgzeitzeugen_1945_google 
 maritime_gelbe_Buchreihe_googlezeitzeugenbuch.wb4.deMonica_Maria_Mieck.klack.org/index
MMM_site_google

Seemannserinnerungen_google

subdomain: www.seamanstory.de.ki

seamanstory.klack.org/gesamt

Seefahrt_damals_google google-bildgalerien


Diese Seite besteht seit dem 24.04.2019 - last update - Letzte Änderung:14.05.2022   

Jürgen Ruszkowski ©   Jürgen Ruszkowski  © Jürgen Ruszkowski