Rückblicke

 

Persönliche Rückblicke
Autobiographie

in der maritimen gelben Buchreihe
bei
(© Foto: Olaf Pascheit )
Renter-Hobby-Verlag aus Elbdorf Rissen


Schon als Knabe maritim ausgerichtet
Sieht man ihm schon den späteren Seemannsdiakon an?

 

Ganz persönliche Erinnerungen - Herkunft, Kindheit...

- Band 10-1 - Diakon Ruszkowski -   Band 10-2 Himmelslotse - Band 10-3  -

als Direct Deposit by On Demand Publishing, also als amazon-Direktdruck-Printbücher

direkt bei Amazon unter ISBN: 978-1523491322

Herkunft

Leseprobe:

In der Hafenstadt Stettin erblicke ich am 16. Januar 1935 im katholischen Carola-Stift, das den Krieg überdauerte und heute noch von den Polen genutzt wird, bei einer Kaiserschnittgeburt das Licht der Welt.  Meine Mutter hatte als Kind die „englische Krankheit“ – Rachitis – und dadurch eine Beckenverengung, die keine natürliche Geburt zuließ.  
Im Jahre 1935 ist zwar noch Friedenszeit, aber der Verbrecher Hitler hat sich den Machtapparat bereits voll angeeignet und alle ihm nicht passenden Kräfte entmachtet oder gar hinter Stacheldraht gebracht.  Die Folgen des 1. Weltkrieges, die Weltwirtschaftskrise und deren Nachwirkungen werden langsam überwunden.  Nach und nach nimmt die verheerende Massenarbeitslosigkeit ein Ende.  Es kommt der große Hoffnungsaufbruch nach Wirtschaftschaos und Notstand mit Adolf, dem Rattenfänger: Mitte der dreißiger Jahre geht es durch Ankurbelung der Rüstungsindustrie steil aufwärts und langsam in Vollbeschäftigung über.  Meine Mutter Erna, geborene Dollerschell, ist 24 Jahre alt, mein Vater Karl 29.  Ich bin ihr erstes Kind.

Mütterlicherseits entstamme ich kleinbäuerlichem und väterlicherseits großstädtisch-proletarischem Milieu.  Die Vorfahren meiner Mutter kommen aus der Gegend östlich des Oderhaffs in Hinterpommern (siehe obige Karte), mein Großvater väterlicherseits aus dem damals westpreußischen Weichselraum.  Mitte der 1930er Jahre wird von jedem öffentlich Bediensteten, auch von einem Telegraphenbauarbeiter der Deutschen Reichspost, ein Ariernachweis gefordert.  So habe ich das Glück, durch entsprechende Nachforschung meiner Eltern in den Kirchenbüchern Details über meine Herkunft zu wissen.

Die nachfolgenden, etwas langatmigen Personalien mag der eilige Leser gern überfliegen. 

Mein aus dem Polnischen stammender Familienname, der ursprünglich im Bereich von Litauen verbreitet war und zu einem später verarmten polnischen Adelsgeschlecht zählte, welches das Lubicz-Wappen führte, ist wahrscheinlich auf eine Ortsbezeichnung zurückzuführen.  
Einen Ort Ruszkowo fand ich auf der Karte unmittelbar südlich der früheren Grenze (zwischen Ostpreußen und Polen vor 1939) südwestlich von Olsztyn/Allenstein, südöstlich der Kernsdorfer Höhe.  Der Ort wäre nur etwa 110 km vom Wohnort meiner Urgroßmutter entfernt.  Der Name Ruszkowski kommt in Polen häufig vor, ebenso in den USA, wohin ihn polnische Auswanderer brachten.  Meine Urgroßmutter Marianna Ruszkowska, wurde am 9.05.1854 im preußischen Schönau, Kreis Schwetz, polnisch Przechowo, powiat Swiecie-Pomorze, an der Weichsel (Westpreußen) als Kind der Juliana Ruszkowska, geborene Spichalska und des Felix Ruszkowski geboren.  Geburts- und Taufzeugnis wurden aus dem Polnischen übersetzt.  Ihr Sohn Julius wurde am 29.07.1877 in Wendisch-Neudorf, Kreis Kulm im damaligen Westpreußen geboren.  Ursprünglich war er römisch-katholisch.  Er war als Kind zusammen mit seiner Mutter Marianna, die nach seiner Geburt einen Weißenberger geheiratet hatte, nach Stettin gekommen.  Meine Großmutter Johanna hatte ihn über ihre Schwester kennen gelernt, die mit seinem Halbbruder Weißenberger verheiratet war.  Mein Vater Karl Ruszkowski (sprich: Ruschkowski), geboren am 3.01.1906 in Stettin, war der älteste Sohn des Arbeiters Julius Ruszkowski und seiner Ehefrau Johanna, geborene Runge.  Er verstarb 1947 im Alter von 70 Jahren an einem Schlaganfall in Bad Segeberg direkt nach der Zwangsumsiedlung aus dem seit 1945 polnischen Stettin.  Oma Johanna Ruszkowski war eine geborene Runge und am 10.04.1879 in Stettin als Tochter des Schuhmachermeisters und Kirchendieners Johann Heinrich Karl Runge und der Johanne Charlotte Henriette, geborene Ganz, zur Welt gekommen...

Leseprobe:
Kindheit

In der Bergstraße 6 in Stettin verlebte ich meine ersten Lebensjahre.  Mein Vater bekommt im Februar 1934 eine Stelle als Telegraphenarbeiter bei der Deutschen Reichspost mit einem bescheidenen Einkommen und wird später Postkraftfahrer.  Der Wochenlohn beträgt anfangs satte 36 Mark!  Für die Miete zahlt man im Monat 40 Mark.  Die gute Stube wird für 20 DM an Vaters Tante untervermietet.  Vater ist anfangs häufig die Woche über mit dem Bautrupp auf Montage unterwegs.  Wir wohnen nahe am Stettiner Hauptbahnhof in einer alten grauen Mietskaserne in der Bergstraße 6 (polnisch: Owocowa) in der 2. Etage...

Auf die Dauer ist diese allzu intime Aufdringlichkeit der Schwiegermutter nicht durchzustehen.  So bewirbt sich Vater Karl 1937, als er 31 und Mutter Erna 26 ist, um eine Versetzung als Telegraphenbauarbeiter nach Altdamm, einem Vorort Stettins östlich der Oder, und findet dort am August-Frost-Weg nahe am Waldrand parallel zur Stargarder Straße, nicht weit von der Papierfabrik entfernt, eine schöne Neubauwohnung mit Balkon und Ausguss im 1. Stockwerk, das erste eigene, unabhängige Zuhause...

Mein Vater soll mit seinem Telegraphenbautrupp für mehrere Wochen nach Bayern versetzt werden, um in dem damals noch unterentwickelten Südstaat Entwicklungshilfe zu leisten.  Mutter Erna setzt durch, zusammen mit mir mitreisen zu dürfen.  Von Straubing aus werden am Wochenende Ausflüge mit geliehenem Pkw auf den Großen Arber im Bayerischen Wald, an den Königssee im Berchtesgadener Land, nach Braunau am Inn zu Führers Geburtshaus und ins Sudetenland unternommen.  Es ist eine wunderschöne Zeit, an die ich mich noch bruchstückweise erinnern kann...
Am 1. September 1939 bin ich vier Jahre alt.  Unser ‚Führer’, der „größte Feldherr aller Zeiten“ (mit vorgehaltener Hand GröFaZ genannt) Adolf, Gastarbeiter aus Braunau in Österreich, verkündet über den Volksempfänger im Wohnzimmer, es werde in Danzig seit 5 Uhr in der Früh „zurückgeschossen“.  Meiner Mutter Vater war im 1. Weltkrieg gefallen.  Sie weiß also, was Krieg bedeutet.  Ich kann mich an ihre Angst bei Kriegsbeginn vor der „Goebbelsschnauze“ noch sehr gut erinnern.
Außer im Wald strolchen wir Kinder auch über den nahegelegenen Truppenübungsplatz und spielen „Soldat“.  Einmal gibt es im nahen Wald einen großen Menschenauflauf.  An einem Baum wird ein Pole erhängt, der irgendein „Verbrechen“ an Deutschen begangen haben soll.  Die in Lagern gefangen gehaltenen polnischen „Fremdarbeiter“ müssen „zur Abschreckung“ in langen Kolonnen unter dem Gehängten vorbeidefilieren.  Ich erinnere mich auch noch daran, dass sich eines Tages vor einem Haus in unserer Straße ein Drama abspielte, indem die Obrigkeit einen geistig behinderten jungen Mann gegen den Willen der Mutter „abholte“.

Schulzeit

Im Herbst 1941 werde ich in Altdamm eingeschult und lerne dort zwei Jahre lang in dem alten Backsteingebäude, das den Krieg überlebt hat und dem ich 1997 einen Besuch (siehe mein Bericht über meine Fahrradtour im Jahre 1997) abstatte, lesen, schreiben und rechnen.  Die schulischen Sitten sind zu der Zeit streng: Alle aufstehen, Kopfrechnen.  Wer sich zuerst meldet und richtig antwortet, setzt sich und schweigt.  Wer am schlechtesten rechnet, steht am längsten.  Wir sitzen nach Leistung im Kopfrechnen, die schnellen Rechner hinten, die schlechten vorne.  Die Sitzordnung wechselt ständig, aber ich sitze meistens in den vorderen Reihen und bin froh, dass einige Jahrzehnte später Rechenmaschinen und Taschenrechner erfunden werden.  Für kurze Zeit lerne ich auch noch die alte deutsche Sütterlin-Schreibschrift.  Ab und zu werden Schmalfilme gezeigt, etwa über die Fabel vom Hasen und Igel. 

Mein Schulweg führt mich an einem Gefangenenlager für russische Kriegsgefangene vorbei, die damals als Untermenschen gelten und erheblich schlechter behandelt werden als gefangene Engländer und Franzosen.

Sieben Jahre lang wachse ich als Einzelkind auf.  1942, meine Mutter ist 31 Jahre alt, ich 7, wird meine Schwester Inge-Lore geboren...
Der Krieg kommt dann 1943 auch an die „Heimatfront“:  Immer öfter muss meine Mutter mit uns Kindern nachts in den Luftschutzkeller.  Im Herbst 1943 sollen wir, ich war acht Jahre alt, mit meiner Schule wegen des Bombenkrieges nach Grimmen in Vorpommern evakuiert werden.  Meine Mutter zieht es vor, mit uns auf den Bauernhof ihres Bruders Walter nach Dischenhagen (heute Dzisna / Dzieszkowo)  im Kreis Cammin in Hinterpommern zu gehen.  So werden wir vor den immer heftigeren Bombardements verschont.  Einen schweren Angriff erlebe ich im Luftschutzkeller in Stettin mit, als ich Oma Ruszkowski von Dischenhagen aus alleine im Alter von neun Jahren besuche...

Der gummibereifte Pferdewagen wird, als die Front immer näher rückt, mit einer Plane versehen und für die Flucht mit den wichtigsten Sachen, wie Bettzeug, Kleidung und Lebensmittelvorräten beladen.  Porzellan, Bestecks und Wertsachen werden in Kisten verstaut und im Garten hinter dem Haus vergraben.  Wenn wir nach dem Kriege zurückkehren werden, wollen wir die Sachen wieder hervorholen.  Aus Bettlaken näht meine Mutter Rucksäcke.  Um den 3./4. März 1945 sehen wir in der Nacht im Nordosten Feuersschein am Horizont und wundern uns darüber.  Niemand ahnt, dass er schon die nahen brandschatzenden Russen ankündigt, die mit überwältigender Übermacht, nur auf geringen Widerstand stoßend, in wenigen Tagen große Gebiete überrennen.  Die Flucht darf aber erst nach obrigkeitlicher Weisung angetreten werden.  Im kalten frühen März 1945 (soweit ich es rekonstruieren kann, in Dischenhagen wahrscheinlich am 4.03.) kommt die behördliche Anordnung: Evakuierte dürfen den Ort verlassen, Ortsansässige haben noch zu bleiben.  Ich bin 10 Jahre alt, meine Mutter 34, mein Vater als Soldat auf dem Rückzug im Westen.  Wäsche wird doppelt und dreifach auf den Körper gezogen, die gepackten, aus Bettlaken genähten Rucksäcke werden geschultert.  Tante Erna bringt uns (vermutlich am 4. März) mit dem Pferdewagen zum Bahnhof Kantreck (heute Łoznica).  Dort den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht vergebliches Warten auf einen Zug.  Mehrere Flüchtlingszüge fahren ohne uns weiter.  Zwischendurch werde ich noch einmal zu Fuß über die Kleinbahngleise zurückgeschickt, um irgendetwas Vergessenes zu holen. Meine Mutter erwartet derweil besorgt meine Rückkehr.  In der Nacht der feuerrote Horizont im Nordosten.  Die Russen melden sich schon per Telefon aus der nächsten nördlichen Bahnstation.  Cammin wurde am 5.03. bedrängt, um den 5.03. setzten sich deutsche Militärdienststellen aus dem Nachbardorf Hammer (heute Babigoszcz) ab.  Hagen vor Wollin wurde am 7.03.1945 von den Russen eingenommen.  Es gelingt uns, im letzten Eisenbahnzug am 5.03.1945 dank der beherzten Durchsetzungsfähigkeit der Mitevakuierten und späteren Freundin der Familie, Irmgard Jaeger aus Westfalen, die Türen einer offenen Kohlenlore von außen zu öffnen und uns gegen den heftigen Widerstand der bisherigen „Passagiere“ Einlass zu verschaffen.  Die Flucht im unbedachten Güterwagen, den Russen noch gerade im letzten Augenblick entkommen, führt uns durch Gollnow südwärts, später durch das brennende Altdamm und durch Stettin immer weiter nach Westen.  Für die Strecke bis Stettin, die man sonst mit dem Bummelzug in einer Stunde fuhr, benötigt unser Flüchtlingszug mit unserem dachlosen Güterwaggon bei winterlicher Kälte fast eine Woche.  Immer wieder bleibt er auf freier Strecke im stark umkämpften Gebiet südlich von Gollnow stundenlang stehen, bis die zerbombten Schienen wieder notdürftig repariert worden sind.  Mehrere Züge stauen sich hintereinander auf den Gleisen.  Es ist riskant, den Zug zu verlassen, etwa um ein menschliches Bedürfnis zu erledigen.  Er kann nach kurzem Pfeifen der Lokomotive jeden Moment wieder anfahren.  Die russischen – „Nähmaschinen“ genannten – Jagdflugzeuge beharken auf der parallel laufenden Landstraße die zurückflutenden deutschen Militärkolonnen mit Maschinengewehrfeuer, verschonen aber unseren Flüchtlingszug.  Es finden bereits unweit der Bahngleise Kämpfe statt: Gollnow (heute Goleniow) wurde am 7.03.1945 von den Russen bedroht, Lübzin (heute Lubczyna) am 8.03.  Bei Hornskrug (heute Rzesnica) nördlich vor Altdamm (heute Dabie) stürmen die Sowjets am 11.03. gegen den bis zum 20.03.1945 von den Deutschen gehaltenen Brückenkopf Altdamm.  Lange steht der Zug auch vor Altdamm, und meine Mutter überlegt ernstlich, dort auszusteigen, weil unsere unversehrte Wohnung ganz in der Nähe ist.  Aus einem Bahnwärterhaus vor Altdamm kommt ein Stuhl in den Waggon, der uns noch jahrelang als Andenken an den Heimatort dient.  Von Stettin aus geht es dann an einem Tag durch Vorpommern und Mecklenburg bis an unser Ziel, das uns aber noch unbekannt ist.  Nur ab und zu hält der Zug, um einige Kinderleichen oder an Erschöpfung gestorbene alte Leute auszuladen.  Ein Mann in SA-Uniform reicht unterwegs den durstigen Flüchtlingen auf deren Bitte einen Eimer mit Trinkwasser aus einem Bahnwärterhäuschen in den Waggon. 

In Grevesmühlen in Westmecklenburg, kurz vor Lübeck, hält der Zug, und wir müssen alle aussteigen.  Hitlerjungen mit Handwagen helfen auf dem Weg zum Notquartier.  Eine Woche lang finden wir zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen eine erste Unterkunft in der Fremde im Gemeindesaal der evangelischen Kirche auf einem Strohlager.  Am nächsten Tag kann ich nicht mehr laufen.  Meine im offenen Güterwagen angefrorenen Füße heilen aber langsam wieder.  Einem Altersgenossen müssen die erfrorenen Zehen amputiert werden...
Der Krieg liegt in seinen letzten Zuckungen.  Ich bin enttäuscht, dass ich nach Erreichen des 10. Lebensjahres in Grevesmühlen nicht mehr Pimpf werden soll, aber meine Mutter meint, das sei nun nicht mehr angebracht.  Mit unserem Führer und seiner Hitlerjugend gehe es trotz aller Endsiegparolen und Hoffnungen auf Wunderwaffen unzweideutig dem Ende entgegen.  Der Traum von der Weltherrschaft des Großdeutschen Reiches ist ausgeträumt.  Im April und Anfang Mai fluten in dieser letzten, von deutschen Truppen „beherrschten“ Gegend aus Ost und West deutsche Militärkolonnen und endlose Flüchtlingstrecks zusammen.  Die Flüchtlinge biwaken in den ‚Kohlsteigen’ und Gartenwegen mit ihren Pferdewagen, die Soldaten in Wäldern und auf Feldern.  Der „Heldentod des Führers“ am 30. April 1945 wird im Großdeutschen Rundfunk bekannt gegeben.  Es gibt um Grevesmühlen, das den Krieg bislang ohne Bombardements heil überstanden hat keine Kämpfe.  Ein Haus wurde in den letzten Kriegstagen durch eine Bombe zerstört, die einer benachbarten Eisenbahnbrücke gegolten hatte und ihr Ziel verfehlte.  Anfang Mai werden in der Stadt weiße Fahnen gehisst.  Einige SS-Fanatiker holen die weiße Fahne wieder vom Wasserturm, und es gibt eine wilde Schießerei zwischen ihnen und den hissenden Wehrmachtssoldaten. 

Der trotz seines hohen Alters den Kirchsprengel immer noch betreuende Propst Münster, der mich später konfirmierte, berichtet in der von ihm sehr gründlich geführten Gemeindechronik über diese Tage:

„Die ersten Tage des Monats Mai waren äußerst spannungsreich und aufregend.  Der Einmarsch alliierter Truppen war täglich zu erwarten.  Es war aber zu befürchten, dass der wahnwitzige Befehl, unter allen Umständen äußersten Widerstand zu leisten, von fanatischen Hitlerleuten befolgt werden und namenloses Unheil über die Stadt heraufbeschwören könnte.  Es traten hier und da SS-Männer mit derartigen Drohungen auf.  Es hieß, Himmler hielte sich in Kalkhorst auf, um den verzweifelten Kampf zu leiten.  Einige entschlossene Männer taten sich zusammen, um solche Versuche zu verhindern, und brachten es fertig, auf dem Kirchturm und auf dem Wasserturm die weiße Fahne zu hissen – am 2. Mai.  Um diese Fahne, die den nahenden Truppen die Unterwerfung der wehrlosen Stadt kundtun sollte, entbrannte ein heißer Kampf zwischen SS-Soldaten und ihren Gegnern.  Die Fahne wurde aufgesetzt, wieder heruntergeholt und wieder aufgezogen, auch der Verfasser dieses Berichts wurde am Nachmittag des 2. Mai zweimal von angetrunkenen SS-Männern wegen dieser Fahne mit dem Revolver bedroht.  Das Ende war die Unschädlichmachung der SS-Kämpfer und der widerstandslose Einzug der amerikanischen Truppen.“

 Man bedeutet mir, ich solle nun nicht mehr mit „Heil Hitler“ grüßen, das sei jetzt vorbei, was ich erst nicht verstehe, denn ich habe mit meinen zehn Lenzen gar nicht assoziiert, dass dieser Gruß etwas mit „unserem Führer“ zu tun hat.  Für mich ist „heilitler“ gleichbedeutend mit „Guten Tag“.  Warenlager werden plötzlich zum Plündern durch die Bevölkerung freigegeben.

Der erste Jeep mit weißem Stern auf der Kühlerhaube fährt durch unsere Straße.  Die Amis sind kampflos da.  Sie lassen durch einen Lautsprecherwagen in deutscher Sprache ausrufen, nachts gelte Ausgangssperre, diese Gegend sei sowjetisches Interessengebiet und niemand habe es zu verlassen.  Fotoapparate und ähnliche Wertgegenstände seien auf dem Marktplatz an die Besatzungsmacht abzuliefern.  Unser einfaches Klappbalg-Fotogerät, das die Flucht überstanden hatte, wandert somit „in Feindeshand“.  Wir sehen die ersten „Neger“.  Die Amerikaner werden durch Engländer und dann durch Schotten abgelöst, und wir amüsieren uns über Soldaten in karierten Röcken mit Dudelsäcken, die auf dem Marktplatz paradieren.  Die fremden Soldaten essen schneeweißes Brot, und ab und zu erwischt ein deutsches Kind mal von ihnen ein Stück Schokolade. 

Am Rande der Stadt am Vielbecker See unterhalten die Tommys ein riesiges Kriegsgefangenenlager auf Feldern unter freiem Himmel.  Später erzählt uns Onkel Hermann, dass er in diesem Lager bei Grevesmühlen weilte.  Den einzigen Schutz gegen Kälte und Regen bieten Erdlöcher...

Jugend
Weg zur Kirche
Leseprobe:
go west

Am frühen Morgen des 14. Mai 1953 steige ich mit nur einer Aktentasche als unauffälligem Gepäck in Grevesmühlen in den Zug, um auf dem Umweg über Neubrandenburg nach Berlin zu fahren.  Die Zonengrenze ist undurchlässig.  Nur das Schlupfloch Berlin ist noch geblieben.  Dort kann man noch fast ungehindert mit der S-Bahn oder zu Fuß die Sektorengrenze überqueren.  Aber rings um Groß-Berlin herum hat die Volkspolizei einen Kontrollring gelegt.  Viele fluchtverdächtige Reisende werden aus den Zügen geholt und nach Verhören zurückgeschickt.  Falls es in meinem Falle zu einer Kontrolle kommen sollte, will ich zu einer Familienfeier, einer „Silberhochzeit“ zu Verwandten, zur Tante Toni Seth, in Berlin-Treptow.  Ein „Geschenk“ habe ich in der Aktentasche, sonst nur Wasch- und Rasierzeug, nichts was auf eine Flucht hindeuten könnte.  Ich komme aber ungehindert nach Berlin hinein und mit Herzklopfen mit der S-Bahn auch in den Westsektor.  Hier begebe ich mich nach Tempelhof, wo seit Jahren Ulla Schiele, geborene Feilke, mit ihrem Mann wohnt.  Dort bleibe ich die erste Nacht.  Am nächsten Morgen suche ich die kirchliche Beratungsstelle für junge Flüchtlinge aus der DDR auf, deren Adresse ich im Kopf habe.  Ich werde aufgefordert, mir mein Vorhaben doch noch einmal gründlich zu überlegen, es könnten doch nicht alle weglaufen, was solle dann aus der Kirche in der DDR werden.  Dafür hatte ich die Reise nach Berlin nun doch nicht auf mich genommen.  Ich habe mich fest entschieden und bin mir meiner Sache sicher. 

So nennt man mir die Anschrift der Kontaktbehörde.  In diesen Wochen und Monaten kommen täglich tausend oder gar mehrere tausend Menschen über Berlin in den Westen.  Ein großer Exodus lässt die DDR ausbluten, bis Ulbricht acht Jahre später am 13. August 1961 die Mauer bauen lässt.  Auf dem Messegelände am Funkturm sind in den großen Ausstellungshallen riesige Auffangbüros eingerichtet worden. 

Ich kenne das Gelände noch vom Kirchentag in Berlin 1951 her.  Vor zwei Jahren war ich hier gewesen.  So beantrage ich nun die „Notaufnahme“.  Ich bekomme einen „Laufzettel“.  Es beginnt das Stempelsammeln: Einer vom amerikanischen (Geheim-)Dienst, der nächste vom britischen, der dritte vom französischen, der vierte von einer ärztlichen Dienststelle.  Ich werde Inhaber eines Gesundheitspasses für Flüchtlinge.  Die ärztliche Untersuchung ist gründlich und bewirkt sofort, dass ich in ein Krankenhaus nach Tegel eingewiesen werde. 

Während meines Aufenthaltes in Berlin werden in der DDR plötzlich die straff angezogenen Zügel wieder gelockert: Der „Neue Kurs“ wird eingeläutet, gemäß dem Motto: Vom großen Bruder lernen.  So etwas gab es in den zwanziger Jahren auch bereits einmal in der Sowjetunion: Die NEP, die „Neue ökonomische Politik“.  Die Verfolgung der Kirche wird abgeblasen, einige Maßnahmen rückgängig gemacht.  Die von den Oberschulen verwiesenen christlichen Abiturienten können ihr Abitur nachholen.  War also meine Flucht umsonst?  Im Hinblick auf meine Heilungschancen durch die neuen Medikamente im Westen war mein Entschluss der einzig richtige.  So bleibe ich, bekomme einen provisorischen Personalausweis der Stadt Berlin und werde am 13. Juni 1953 mit anderen jungen Flüchtlingen von Berlin nach Hannover ausgeflogen und am selben Tage per Autobus in das Durchgangslager Sandbostel gebracht.  Das Lager Sandbostel im Moor bei Bremervörde hatte zur NS-Zeit als Häftlingslager gedient.  Auf der Latrine empfangen mich Sprüche wie: „Erst wenn du in der Fremde bist, weißt du, wie schön die Heimat ist.“  Hier bricht eine Epidemie aus: Typhus oder dergleichen.  Auch ich werde nicht verschont, überstehe es aber schnell.  Eine Quarantäne schließt sich an.  Nach drei Tagen Lageraufenthalt dringen aufregende Meldungen an unsere Ohren:  Die Bauarbeiter der Stalinallee in Ostberlin fühlen sich durch den Neuen Kurs ermutigt und protestieren gegen die hohen Arbeitsnormen.  Daraus entwickelt sich ein Volksaufstand, der auch auf andere Städte in der DDR übergreift.  Auch in Schwerin gibt es Proteste.  Wir kommen kaum noch von den Lautsprechern weg.  Die Russen setzen Panzer ein und wälzen die „von Westagenten angezettelte Konterrevolution“ brutal nieder...

Ich will Diakon werden - Erinnerungen - Band 10...

Leseprobe:
Rauhes Haus

Das Rauhe Haus gilt als „Brunnenstube der Inneren Mission“ und ist die Wiedergeburtsstätte der männlichen Diakonie nach über tausendjährigem Dornröschenschlaf in der Kirchengeschichte.  Johann Hinrich Wichern hatte diese Anstalt 1833 als junger Kandidat der Theologie mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche gegründet und aufgebaut (über Wichern und die Geschichte des Rauhen Hauses habe ich den Band 65 in meiner gelben Reihe herausgegeben bei amazon.de unter ISBN 978-1507725047 als ebook unter ISBN 978-3-8476-8155-7).  Im Sommer 1834 zog ein Bäckergeselle, namens Josef Baumgärtner, zu Fuß von Basel nach Hamburg, um Wichern als erster Gehilfe für ein mageres Taschengeld von 100 Mark im Jahr bei freier Kost und Logis als Betreuer einer „Knabenfamilie“ zur Hand zu gehen.  Nach drei Jahren übernahm Baumgärtner ein eigenes neu gegründetes Rettungshaus in Mitau im Kurland.  Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als Hausväter in „Rettungshäusern“, als Strafvollzugsbetreuer oder als „Stadtmissionare“ in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden...
Am 1. April 1954 kehre ich wieder zurück nach Hamburg.  Vier Jahre habe ich auf diesen Tag des Eintritts in eine Diakonenanstalt gewartet.  Nun ist es endlich soweit...
Mein erster Job ist der eines Trümmerjünglings.  Die Kriegsfolgen sind 1954 in Hamburg noch allenthalben stark sichtbar, obwohl schon sehr viel wieder neu aufgebaut worden ist.  In Hamburg-Hamm gibt es noch Nissenhütten, halbrunde Wellblechbaracken, als Notunterkünfte für Ausgebombte.  Am Horner Weg, direkt neben dem Rauhen Hause, lagen bis kurz vor meinem Eintritt noch die Gleise der Trümmerbahn, die den Bauschutt an den Stadtrand befördert hatte...  Das Rauhe Haus war bei einem Bombenangriff im Juli 1943 wenige Wochen nach der Räumung durch die Innere Mission von Brandbomben fast vollständig vernichtet worden...  Das Rauhe Haus war durch den Krieg arm geworden.  Der Neuaufbau wird zu einem nicht unwesentlichen Teil durch den unermüdlichen Arbeitseinsatz der hauptamtlichen Diakone und der Diakonenschüler ermöglicht...  Mehrere Fassaden der ausgebrannten alten Häuser im Anstaltsgelände stehen am Beginn meiner Ausbildungszeit noch und werden von uns Diakonenschülern eingerissen:  Ein Seil wird an einem oberen Fenstersims befestigt, etliche Männerarme packen zu und mit „Hau Ruck“ und einer Staubwolke geht die Mauer zu Bruch.  Ich sammle die Steine in eine Schubkarre und fahre sie zu einem hohen Haufen zusammen.  Ein Brett wird angelegt und mit Kraft geht es mit der Karre bergan...  Mit einem Hammer bewaffnet darf ich Tag um Tag, Woche um Woche, von morgens bis abends die Steine vom alten Mörtel befreien.  Mein Weg führt also aus dem Sanatorium übergangslos und direkt hinein in härteste Knochenarbeit.  Abends bis 22 Uhr und sonntags Telefonwache im Haus „Tanne“ machen und alle eingehenden Gespräche vermitteln...  Die Führung der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses betreibt die Strategie, den Weizen von der Spreu zu trennen.  Wer zu leicht befunden wird, fällt durchs Rüttelrost!  Nur handverlesene Männer sollen Diakon werden.  Eine harte Schule zum Beginn der Diakonenausbildung ist daher oberstes Gebot...
Am 18. März 1958 bestehen wir das Wohlfahrtspflegerexamen im Hauptfach Jugendwohlfahrtspflege und Sozialpädagogik. Siegfried Strathmeier schneidet als Spitzenreiter ab.  Ich bestehe mit dem Ergebnis „gut“.  Auch meine Bewährung in der Praxis wird mit „gut“ beurteilt...

Ich bekomme ein Zeugnis über die bestandene Prüfung als Religionslehrer für den kirchlichen Religionsunterricht.

Am 2. März 1959 bestehe ich im Alter von 24 Jahren das Diakonenexamen mit dem Prädikat „befriedigend“, bin nun nach fünf harten Jahren mit der Ausbildung fertig und habe einen von der Kirche und einen vom Staat anerkannten Beruf...  Am 21.12.1959 wird mir noch mit einem Ausweis die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfleger bescheinigt.  Aus dem oft gehemmten und unsicheren Jüngling ist ein recht selbstsicherer junger Mann geworden.

-  Band 10-1 - Diakon Ruszkowski -   Band 10-2 Himmelslotse - Band 10-3  -

Wirken eines Diakons in Westfalen und Hamburg -...
Leseprobe:

Wirken als Diakon
Dortmund

Nachdem ich bei der Sozialbehörde gerade eben eingearbeitet worden war, spricht mich eines Tages Fiete Jahnke an, um mir eine Stelle als Jugendfürsorger beim Kirchlichen Gemeindedienst für Innere Mission in Dortmund mit Inaussichtstellung einer Dienstwohnung anzubieten.  Gottfried Scheer, Rauhäusler Diakon, der dort als Geschäftsführer tätig ist, hat offenbar seinen Chef, Dr. Heinrich Schmidt, darauf gebracht, am 3.04.1959 beim Rauhen Haus nach einem geeigneten Fürsorger anzufragen.  Jahnke weiß, dass meine Braut aus dem Ruhrgebiet kommt, dass wir eine Wohnung brauchen und will mich für den Dienst in der Kirche zurückgewinnen.  Am 25.04.1959 schreibt das Rauhe Haus nach Dortmund:

„...es handelt sich bei R. um einen hochbegabten Mann, der im Augenblick Dienst bei der Stadt Hamburg tut, aber lieber bei der Kirche arbeiten würde...“

Diese Stelle interessiert mich dann doch sehr, und ich bewerbe mich erfolgreich...
Nach vielen Wochen können wir im Herbst endlich die Dienstwohnung beziehen.  Es wird auch höchste Zeit, denn in unserer nicht heizbaren provisorischen Bude wird es empfindlich kalt...  
An die Dienstwohnung geknüpft ist meine Aufgabe, mich nach Feierabend und am Wochenende um die Stadtstreicher zu kümmern, die recht häufig – auch noch spät abends – an der Tür klingeln und um Hilfe nachsuchen.  So manches Schmalzbrot wird vom eigenen schmalen Wirtschaftsgeld dafür abgezwackt.  Außerdem habe ich die Koksfeuerung der Zentralheizung zu bedienen, wenn der Hausmeister Urlaub hat oder wegen Krankheit ausfällt...
Vom 8. Juli 1959 bis zum 31. März 1963 bin ich bei der Inneren Mission in Dortmund mit großem Engagement als Jugendfürsorger und Diakon tätig...  Volles berufliches Engagement gehört für mich immer zum Diakonsein dazu.  In Nordrhein-Westfalen werden, bedingt durch die starke Stellung der katholischen Kirche, in vielen Kommunen die Pflichtaufgaben des Jugendamtes von den Freien Wohlfahrtsverbänden nach dem Subsidiaritätsprinzip in Delegation durchgeführt.  Zusammen mit drei weiteren Kollegen habe ich mich um die gefährdeten männlichen Jugendlichen ab 14 Jahren zu kümmern.  Wir teilen uns das Dortmunder Stadtgebiet auf, und ich betreue in dem Bezirk südlich und östlich der Stadtmitte vom Hellweg bis zur Syburg und von Barop bis Sölde mit Hombruch, Aplerbeck, Asseln und Brackel junge Bergarbeiter, Stahlwerker, Bierbrauer, Hilfsarbeiter und Schüler, die auf die schiefe Bahn zu geraten drohen... 

Die im Jugendwohlfahrtsgesetzt vorgesehenen „Erziehungsmittel“ der ambulanten vorbeugenden und nachgehenden Hilfe, der „Freiwilligen Erziehungshilfe“, „Fürsorgeerziehung“, die Stellungnahmen zu Volljährigkeits- und Ehemündigkeitsanträgen bei noch nicht 21jährigen heiratswilligen Vätern bei damals noch weit verbreiteten „Mussehen“ und die Jugendgerichtshilfe für straffällig gewordene Jugendliche (14-17 Jahre) und Herauswachsende (18-21 Jahre) bilden mit Gesprächen, Hausbesuchen, Schreiben von Berichten und Wahrnehmung vieler Jugendgerichtstermine meine Arbeitsschwerpunkte.  Manchen „Knaben“, der die Schule oder die Arbeit schwänzt, hole ich bereits am frühen Morgen aus dem Bett.  Viele Hausbesuche führe ich abends durch, wenn die Leute anzutreffen sind.  Meine Berichte – natürlich auch die der anderen Kolleginnen und Kollegen – werden immer vom Dienststellenleiter Dr. Heinrich Schmidt selber unterschrieben.  Hin und wieder fordert er eine inhaltliche oder orthographische Korrektur von mir.  Meistens gehen meine Schreiben aber mit seinem Einverständnis glatt heraus.  Im Jugendamt oder bei anderen Behörden erkennt man die Verfasser jedoch immer am Diktatzeichen.  Mit dem Kollegen Horst Schwiderski, Diakon des Stephansstiftes, teile ich mir einen kleinen Büroraum mit Schreibtisch und Telefon.  Wenn wir beide gleichzeitig anwesend sind, ist es nicht immer einfach, ungestört intime Gespräche mit Klienten zu führen.  Mit zum Team gehören noch eine Kollegin Hilde Kummerwie und ein Kollege Schickentanz.  Wir arbeiten harmonisch zusammen.  Diese Tätigkeit macht mir viel Spaß.  Von erfahrenen älteren Fürsorgern nehme ich gerne Ratschläge an.  Kollege Birkholz, der sich tagsüber um die Tippelbrüder zu kümmern hat, meint, wenn jemand vom flachen Lande komme und offen gestehe, er sei im Vergnügungsviertel Dortmunds versumpft, so könne man ihm schon mal vertrauen und eine gestundete Fahrkarte für die Heimreise durch die Bahnhofsmission ausstellen lassen.  Diese Leute würden das verauslagte Geld nach seiner Erfahrung immer zurück überweisen. Da kommt dann am Wochenende ein „Viehhändler“ aus Süddeutschland, der mit seinen beiden Helfern in der Herbertstraße versackt sein will.  Ich lasse auf Kosten der Dienststelle drei Fahrkarten ausstellen.  Statt der Rückerstattung der Kosten kommt ein Anruf der Kripo: Die Stundungsstempel auf der Rückseite der Fahrkarten sind sehr geschickt beseitigt und die Tickets Bargeld bringend weiterverkauft worden.  So mache ich meine Berufserfahrungen und bin fortan noch vorsichtiger bei derlei Hilfeanliegen.

Ich versuche mich mit einer Freizeitgruppe für gefährdete Jugendliche.  Später gestalte ich Freizeitaktivitäten und Unterricht im Anfangsvollzug der Jugendstrafanstalt Dortmund.  Einer meiner spektakulärsten Jugendgerichtshilfefälle: Ein gerade eben strafmündiger jugendlicher serienmäßiger Autoknacker, der schon in früheren Kindertagen, als er sich noch seinen Schultornister unter den Hintern legen musste, um durch die Windschutzscheibe des geklauten Autos schauen zu können, war um einer Beute von 50 Mark willen zum Mörder eines Tankwarts geworden.  Er entstammte einer Vergewaltigung seiner Mutter durch einen Russen bei Kriegsende und war offenbar als nicht erwünschtes Kind spychisch stark geschädigt.

Am Anfang mache ich meine Hausbesuche in Dortmund per Fahrrad oder Straßenbahn...

Soest
Speyer
Schleswig
wieder in Hamburg

27 Jahre Himmelslotse im Seemannsheim - Wirken eines Seemannsdiakons - Teil 2: Band 10–2 in der maritimen gelben Reihe bei…

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Leseprobe:

Nach 10 erfüllten Berufsjahren als Diakon in Westfalen und je einem kurzen Abstecher nach Speyer und Schleswig nehme ich dann die Stelle eines Heimleiters im Seemannsheim an und wechsele am 26. Januar 1970 nach Hamburg an den Krayenkamp.
Otto Brunschede wird Ende März 1970 in den Ruhestand gehen und kann mich in den gut zwei Monaten einarbeiten. Am  26. Januar 1970 reise ich dann also im kernigen Alter von 35 Jahren an und bewohne zunächst das Gästezimmer 227 im zweiten Stock des Seemannsheimes.  Ich schaue Brunschede, der den Job des Hausvaters schon seit 1951 macht, über die Schulter.   

Das Seemannsheim steht in der Straße Krayenkamp im Schatten des großen Hamburger „Michel“ inmitten der City, tausend Schritte von St. Pauli entfernt.

Neben dem Seemannsheim rauscht die Ost-West-Straße (später in Ludwig-Erhard-Straße umbenannt), eine der belebtesten Verkehrsadern Hamburgs, vorbei.  Die Feuerwache befindet sich in der Nähe: Tag und Nacht hören wir die schrillen Martinshörner von Polizei und Feuerwehr in Richtung St. Pauli.  Das 1959 erbaute Haus hängt zu der Zeit mit einer Ecke über einer gigantischen, 30 m tiefen, Baugrube der City-S-Bahn.  Die Straße Krayenkamp ist eine Großbaustelle.  Ein Stück des Kellers ist weggerissen. Ganz tief unten in der Grube sieht man die Arbeiter werken.   Die Bauarbeiten gehen vom frühen Morgen bis in den späten Abend zügig voran.  Die schlimmsten Rammarbeiten sind aber schon vor unserem Einzug beendet.  Noch jahrelang müssen wir mit der Baustelle leben.  Am nervigsten sind die Ramm- und Rüttelarbeiten nach Zuschütten des Tunnelschachtes.  Nach Jahren Bauzeit spüren wir eines Nachts, wie der erste Zug unter uns hinwegrattert.  Später wird alle paar Minuten eine Bahn nach der anderen mit unüberhörbaren Vibrationen unter uns hinwegbrausen.

Mitte März 1970 zieht Otto Brunschede aus der Dienstwohnung in sein eigenes Haus nach Lokstedt.  Die Hausvaterwohnung wird renoviert und wir ziehen von Speyer nach Hamburg um.

Am 3.5.1970, am Sonntag Rogate, werde ich im Beisein meines Brüderältesten, Paul Hatje, in der alten Kapelle des Seemannsheimes von Seemannspastor Theodor Mundt in mein neues Amt als Seemannsdiakon offiziell eingeführt. 
Für die Seeleute, die zwischen Pastor und Diakon ohnehin kaum zu unterscheiden wissen, bin ich als „Himmelslotse“ in der Regel „Herr Pastor“ oder später bei den Afrikanern „Pasta“.

Träger meiner neuen Arbeit ist die 1891 von Seemannspastor Julius Jungclaußen mit Hilfe von Hamburger Reedern, Kaufleuten und Senatsmitgliedern gegründete „Deutsche Seemannsmission in Hamburg R.V.“  Die Buchstaben R.V. stehen für Rechtsfähiger Verein.  Diese Rechtsform stammt aus der Zeit vor Gültigkeit des BGB in Hamburg.

Eine aus etwa zwei Dutzend Herren (überwiegend Reeder und einige Männer der Kirche) gebildete Mitgliederversammlung trägt diesen altehrwürdigen Verein und „wählt“ alle zehn Jahre einen Vorstand aus vier Herren.  Er besteht 1970 aus drei Reedern und einem Kapitän.  Jeweils zwei dieser Vorstandsmitglieder vertreten den Verein gemeinsam nach außen.  Vorsitzender ist seit 1937 der Mitinhaber der alten Hamburger Reederei Rob. M. Sloman jr., Robert Miles Reincke, ein nobler Gentleman alter Schule.  Dem Schatzmeister, Claus Edye, ebenfalls Mitinhaber der Firma Sloman, der später den Vorsitz übernehmen wird, überbringe ich regelmäßig die Monatsabrechnungen.  Zu beiden Herren habe ich ein recht gutes Verhältnis.  Zwischendurch war nach Reinckes Tod einige Jahre Kapitän Emil Memmen Vorsitzender.  Er stellte in diesem Amt eine Art Galionsfigur dar.  Nach Memmen übernimmt Claus Edye den Vorsitz.  Ich komme jahrelang in guter Zusammenarbeit prächtig mit ihm aus.  Erst nachdem Assessor S. St., Jurist und Abteilungsleiter beim Reedereikonzern Hapag-Lloyd, zum Vorsitzenden gewählt wird, gibt es öfter Differenzen, meistens um pingeligen Kleinkram, mit denen ich aber leben kann.  Ein überwiegend aus Reederfrauen gebildetes Damencomité kümmert sich um Weihnachtspäckchen, Winterschmuck des Seemannsfriedhofs und erforderlichenfalls um Beratung bei der Farbgestaltung der Gardinen im Seemannsheim.  Einige Jahre später werden aus den Comitédamen vollwertige Mitglieder und die Legislaturperiode des Vorstandes wird von zehn auf fünf Jahre verkürzt.  Die Mitglieder achten jedoch sehr darauf, dass kein artfremdes Blut den erlauchten Kreis stört.  Allerdings muss ich zur Ehrenrettung erwähnen, dass mein Vorgänger Otto Brunschede nach seiner Pensionierung als stimmberechtigtes Mitglied aufgenommen wird!  Auch Fiete Jahnke wird auf meinen Vorschlag als Ersatz für Pastor Wilhelm Schmidt vom Diakonischen Werk Hamburg Mitglied.

 Die Kirche stellt die von ihr besoldeten Seemannspastoren und Diakone im Seemannspfarramt zur Verfügung.  Ich bin in Personalunion als Diakon des Seemannspfarramtes Geschäftsführer des Vereins und Heimleiter und unterstehe in personeller Hinsicht der kirchlichen Dienstaufsicht, in puncto Finanzen und Heimbetrieb dem Vereinsvorstand.

Die personelle Situation in der Seemannsmission: Ein Theologe als Seemannspastor ist für den Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburger Staate zuständig.  Dazu gehört damals auch noch die Exklave Cuxhaven.  Theo Mundt, der dieses Amt innehat und von seinem Studienfreund, Bischof Hans-Otto Wölber, in die Seemannsmission gebracht worden war, ist ein lieber Zeitgenosse.  In seiner vorherigen Pfarrstelle in Cuxhaven hatte man ihn „Opa müde“ genannt. Meine anfänglichen Befürchtungen vor territorialen Machtkämpfen zwischen Pastor und Diakon (eine Berufskrankheit vieler Diakone) sind völlig unbegründet.  Brunschede hatte vor Mundt mit dessen Vorgänger, Kurt Rössing, mit dem er zunächst dick befreundet gewesen war, entsprechende Kämpfchen auszufechten gehabt.  Mundt ist unglücklich, dass die Seeleute so wenig von ihm wissen wollen.  Er sitzt oft einsam in seinem großen Amtszimmer im 2. Stock des Seemannsheimes und wartet BILD-Zeitung lesend darauf, dass mal jemand beim Seemannspastor um einen Heiermann nachfragt.  Die Mitarbeiter, und was vor allem wichtig ist, die Seeleute, sehen von vorn herein uneingeschränkt im Heimleiter den „Chef“. 

Ganz anders sieht das im Seemannsheim Altona aus, wo Pastor Harald Kieseritzky bis ins Detail des Alltags unumschränkter Herrscher ist und die Hausväter deshalb alle paar Monate wechseln.  Etwas überspitzt wird behauptet, der Altonaer Hausvater müsse seinen Pastor fragen, ob er ein halbes Pfund Nägel kaufen dürfe.  Das ändert sich erst, als der sehr tüchtige Carl Osterwald Seemannspastor in Altona wird.

Mit mir auf gleicher Ebene arbeitet Diakon Karl-Heinz Hansen als Seemannsmissionar.  Er ist bereits seit seinem Diakonenexamen im Jahre 1953 bei der Seemannsmission tätig.  Seine Arbeitsschwerpunkte sind Krankenhaus- und Bordbesuche, Bücherkistendienst und das Spendenwesen.  Wir kommen recht gut und kollegial miteinander zurecht.  Jeder respektiert den Arbeitsbereich des anderen und wir vertreten uns bei Bedarf gegenseitig.  Nach Hansens Ruhestand im Jahre 1983 wird durch meine Vermittlung Jan Borowski, der Sohn des Rauhhäusler Diakons Lothar Borowski, sein Nachfolger.

Einige Wochen nach meinem Dienstbeginn in Hamburg erhalte ich einen Anruf von Pfarrer Kottschlag aus Werl.  Zur evangelischen Kirchengemeinde Werl im Kirchenkreis Soest gehört auch die kleine Diasporadorfgemeinde Bremen an der Möhne.  Hier habe ich bisweilen von Soest aus als Urlaubsvertreter gepredigt.  Der bisherige Pastor von Bremen geht in den Ruhestand.  Kottschlag bietet mir die Nachfolge an.  Es wäre ein verlockendes Angebot gewesen und die „Chance“, in die „höheren Weihen“ aufzusteigen.  Etliche Rauhhäusler Diakone sind diesen Weg gegangen.  Meistens hatten sie Pastorentöchter zu Ehefrauen!  Kurz entschlossen lehne ich das Angebot - nicht ohne heimliches Bedauern - ab. - Etwas später will mich Bruder Fahrni, als er in Ruhestand geht, für das Schröderstift abwerben.  Auch diese Aufgabe hätte mich sehr gereizt.  Aber ich sage wiederum ab.

Im Seemannsheim finde ich folgende Belegschaft vor: Die Wirtschaftsleiterin, Frau Marlene Dernedde, sie ließ sich damals nur mit „Fräulein“ anreden, bleibt bis nach meinem Ruhestand im Jahre 1997.  Sie verantwortet selbständig Küche und Hauswirtschaft.  In der Küche wirkt als Köchin eine dem Klosterleben entronnene Nonne, Fräulein Elisabeth Nordheider, die später einen Seemann namens Werner Lösekow heiratet, der wiederum Jahre später meine rechte Hand im Hause wird und sie bleibt weit über zwei Jahrzehnte, bis sie in Rente geht.  Zwei Küchenhelferinnen bleiben ebenfalls bis über meine Pensionierung hinaus.  Die Wäscherin und sieben Raumpflegerinnen sind auch fast alle jahrzehntelang treu dabei, bis sie das Rentenalter erreichen.  Ein Hausmeister und vier Pförtner, ehemalige Seeleute, und eine männliche Halbtagskraft im Büro verstärken die Mannschaft.  Pförtner „Timo“, Detlef Nören, ein netter, stets einsatzbereiter Kerl, mag gerne einen guten Tropfen und schüttet bei Personalfeiern ein Glas nach dem anderen in sich hinein, bis er unter den Tisch rutscht.  Beim Mittagessen muss er meistens das ganze Programm hintereinander durchprobieren.  Das bleibt nicht ohne gesundheitliche Folgen.  Eines Tages finden wir ihn tot in seinem Zimmer.  Auch ein zweiter Pförtner, Fleing, säuft sich tot.  Der Hausmeister „Bazi“, Emil Morban, auch Ex-Seemann und Weltbürger, der bereits zu Hitlers Zeiten das KZ Neuengamme erleiden musste, jammert immer darüber, dass ihm sein Chef nicht einmal seine Arbeitskleidung finanzieren will.  Als er nach einigen Jahren stirbt, finden wir ein kleines Vermögen vor, das der Bruder erbt, mit dem er unversöhnlich im Streit gelebt hatte. 

Der von mir jetzt erwählte Arbeitsbereich ist etwas ganz Neues für mich.  Ich fühle mich plötzlich als Hotelmanager mit viel Verwaltungskleinkram im Alltagstrott; denn im Seemannsheim wird alle Verwaltungsorganisation mit Buchhaltung inklusive Lohnbuchhaltung an Ort und Stelle selbst erledigt.  Im Laufe der Jahre böte sich für mich sicherlich die Möglichkeit, diese lästigen Verwaltungsarbeiten an eine kirchliche Verwaltungsstelle zu delegieren, die Vorteile einer autarken Selbstversorgung überzeugen mich aber immer wieder neu, mich auf dem Verwaltungssektor nicht in Abhängigkeiten zu begeben, und ich bin bis zum Schluss gut damit gefahren.  Auf Grund meiner Verwaltungsprüfungen und als Sozialpädagoge wird mir angesichts der knapp werdenden Lehrstellenplätze auf meinen Antrag von der Handelskammer die Erlaubnis zur Ausbildung von Bürokaufleuten erteilt.  Über Jahre hinweg haben wir meistens einen oder zwei Lehrlinge im Büro.  Der erste, Klaus Lücke, arbeitet später in der kirchlichen Verwaltung.  Einer der letzten, Manfred Smirnow, bleibt bei uns, als ich keine neuen Azubis mehr annehme.  Er bestreitet zum Schluss und noch jahrelang nach meiner Pensionierung den Großteil der Verwaltung recht selbständig. 

Ich übernehme Anfang 1970 von Otto Brunschede an Kapital und Rücklagen fast 430.000 Mark und steigere diese bis Anfang der 1990er Jahre auf fast zwei Millionen DM.  Die Bilanzsumme beträgt zuletzt mehr als zwei Millionen, die Gewinn- und Verlustrechnung weist einen Umsatz von eineinhalb Millionen Mark aus.   Darum fordern wir die Seeleute immer wieder auf, ihr Geld im Büro in Verwahrung zu geben.  So führen wir den Betrieb einer Miniatursparkasse mit durchschnittlich 100.000 DM Einlagen und sicherlich 34 Millionen Umsatz an hinterlegten Geldern in den 27 Jahren meines Wirkens im Seemannsheim.

Vor Diebstahl ist im Hause nichts sicher.  Immer wieder werden Gäste in ihrem Zimmer bestohlen.  Wenn sie Geld oder Wertsachen unverschlossen im Zimmer herumliegen lassen, kann ich ihnen den Vorwurf des Leichtsinns nicht ersparen.  Aber auch aus verschlossenen Spinden werden mehr oder weniger wertvolle Sachen und oftmals große Geldbeträge entwendet.  Etliche Seeleute sind auch selber so leichtsinnig, Tausende Mark auf St. Pauli innerhalb kürzester Zeit zu „verballern“ und stehen dann oft mittellos da. 

Hochkonjunktur in der Seefahrt

Die deutsche Seefahrt ist 1970 auf dem Höchststand ihrer Nachkriegskonjunktur angelangt: Unter deutscher Flagge fahren laut Statistik der Seeberufsgenossenschaft 56.441 Seeleute.  Die Reedereien müssen „die Leute an der Küste mit dem Lasso einfangen“, damit genügend Seefahrtbücher an Bord sind und die Wasserschutzpolizei die Dampfer auslaufen lässt.  Die Heuern sind noch niedrig.  Ist das Geld versoffen, findet Hein Seemann sofort wieder ein Schiff - und zwar im Fahrtgebiet seiner Wahl.  Es ist die Zeit der stärksten Expansion nach dem 2. Weltkrieg, die schönste Zeit, die Seeleute je erlebt haben.  Die Liegezeiten in den Häfen der Welt machen noch Landgang möglich. - Der Container ist zwar schon erfunden, hat sich 1970 aber noch nicht durchgesetzt.  Ein Stückgutfrachter in der großen Fahrt braucht noch etwa 40 Besatzungsmitglieder.  20 Jahre später wird ein Containerschiff vier herkömmliche Frachter ersetzen und nur noch 12 bis 18 Mann Besatzung benötigen.  Der Begriff „Mehrzweckeinsatz“ ist noch unbekannt.  Die traditionellen drei Berufsklassen an Bord sind Decksdienst, Maschinendienst und Bedienung.  Neben dem Kapitän gibt es noch Berufe an Bord, wie 1., 2., 3. nautischer Offizier, Steuermann, Zahlmeister, Funker, Elektriker, Bootsmann, Zimmermann, Deckschlosser, Matrose, Leichtmatrose, Decksmann, Jungmann, Schiffsjunge, Leitender Ingenieur, 1., 2., 3. Ingenieur, Maschinist, Ing.-Assistent, Lagerhalter, Schmierer, Reiniger, Leitender Steward, 1., 2., 3. Steward, Messesteward, Aufklarer, Koch, Bäcker-Kochsmaat, Schlachter-Kochsmaat, Küchenjunge.  Auf Fischereifahrzeugen gibt es noch den Bestmann und den Netzmacher, auf Tankern Pumpmänner, auf „Musikdampfern“ Schiffsärzte, Konditoren und Musiker.  Alle diese Berufe finden sich im Seemannsheim ein.  Das Alter reicht vom 15. bis zum 75. Lebensjahr.  1970 gibt es in Hamburg vier Seemannsheime.  Neben unserem am Krayenkamp noch das evangelische in Altona an der Großen Elbstraße, das katholische „Stella Maris“ in der Reimarusstraße und das der Stadt Hamburg gehörende Hamburger Seemannshaus (heute „Hotel Hafen Hamburg“) in der Seewartenstraße.  Unser Heim gilt damals unter den Seeleuten als das modernste, sauberste und billigste.  Der Andrang nach den 120 Betten ist so stark, dass wir täglich Nachfragende abweisen müssen und die Verweildauer in der Regel auf vier Wochen beschränkt ist.  Nur Seefahrtsschüler und Kranke dürfen länger bleiben.  Das Seemannsheim am Krayenkamp ist 1970 noch fest in deutscher Hand, fast!  Nein, wir haben bereits 13% Ausländer: Die allermeisten dieser Ausländer, nämlich 12%, kommen aus der benachbarten Bundesrepublik Österreich. Denen hatte man nach dem 1. Weltkrieg ihr Triest abgenommen und so wurde Hamburg ihr Lieblingshafen.  Ab und an ist mal ein Türke dazwischen oder ein Grieche, Niederländer, Spanier, Norweger oder Jugoslawe.  Viele deutsche Seeleute denken damals noch recht faschistoid und nehmen es mir übel, dass auch ich „Kanaker“ aufnehme und später sogar „Bimbos“. Im Laufe der fast drei Jahrzehnte meines Wirkens in der Seemannsmission wandelt sich einiges:  In den 1990er Jahren ist das Klima in unserem Hause wesentlich toleranter.  Nach und nach kommen immer mehr Ausländer, zunächst jahrelang als Gastarbeiter wegen Personalmangels zu deutschen Heuerbedingungen.  In den 80er Jahren haben wir im Jahresschnitt Seeleute aus 60 Nationen im Hause zu Gast.  Türken, Filipinos, Indonesier, Cabo Verden, Spanier, Südamerikaner und Afrikaner aus Ghana und Burkina Faso bilden die größten Gruppen im Heim.  Inzwischen hat sich das Verhältnis der deutschen zu den ausländischen Seeleuten im Seemannsheim gegenüber 1970 fast umgekehrt.  Wir zählen 1994 noch etwa 22 % Deutsche.

Die Verhältnisse in der deutschen Schifffahrt ändern sich im Laufe der Jahre gewaltig.  Anfang bis Mitte der 1970er Jahre erobert der Container und in den 80er Jahren die Elektronik die Schifffahrt.  Die Gewerkschaften erstreiken nie geahnte Errungenschaften für die Seeleute.  Wurden diese „Fortschritte“ für die Seeleute bald zum Fluch?  Ölkrisen, Flaggenprotektionismus und Dollarturbulenzen bringen die maritime Wirtschaft aus dem Tritt und die folgenden Ausflaggungen die alte europäische Seefahrtromantik ins Rutschen.  Aus den Schmierern werden eines Tages Motorenwärter, aus den Ingenieuren Technische Offiziere.  Der Mehrzweckeinsatz verschmilzt die historischen Gegensätze von Deck und Maschine.  Matrosen und Motorenwärter gibt es nicht mehr, sondern Schiffsmechaniker.  Bootsmänner und Lagerhalter werden zu Schiffsbetriebsmeistern.  Aber sie alle sind auf die Dauer „zu teuer“.  Ab 1972 beginnt die Zahl der deutschen Seeleute rapide zu schrumpfen.  Ende der 90er Jahre gibt es je nach Zählart noch etwa 10.000 bis 16.000 deutsche Seeleute. Vor dem ersten Weltkrieg, zur Blütezeit der Seemannsmission unter unserem marinebegeisterten Kaiser Wilhelm II, hatten wir in Deutschland sogar einmal über 100.000 Seeleute.  Daneben fuhren noch Zigtausende unter fremden Flaggen.  Die alte Segelschiffszeit oder die Zeit der Kohlendampfer hatte zwar auch ihre Reize.  Das Leben an Bord war aber sehr hart und entbehrungsreich.

Die Containerisierung, die teilweise durch Streiks erzwungenen starken Heuererhöhungen und der Computer setzen Zehntausende deutsche Seeleute frei.  Die Schiffe werden nach amerikanischem Vorbild ausgeflaggt.  Lange, bevor das Wort Globalisierung in aller Munde ist, macht die Schifffahrt vor, was zwei Jahrzehnte später im Fernkraftverkehr und auf den deutschen Baustellen abgeschaut wird.  Am Heck ehemals deutscher Schiffe hängt nicht mehr schwarz-rot-gold, sondern eine Flagge von Panama, Liberia oder Zypern.  Gefragt ist jetzt der Decksmann, der gleichzeitig kochen kann und nicht mehr nach dem deutschen Heuertarif bezahlt werden muss.  Ein zweites Schiffsregister wird geschaffen.  Auf den dort registrierten Schiffen erhalten nur die Führungskräfte Heuern nach deutschem Tarif, alle übrigen Heimatlandheuern.  Die ersten Billig-Seeleute werden schon Ende der 70er Jahre von deutschen Nautikern auf den Kiribati-Inseln im Pazifik gedrillt und eingeflogen.  Die Ausflaggungen gehen weiter.  Filipinos und Burmesen verdrängen immer mehr deutsche Seeleute.  Nach der politischen Wende im Ostblock folgen Polen, Balten und Russen, die noch billiger sind als die Kiribatis.  Wer sich als deutscher Seemann noch behaupten kann, muss fachlich hoch qualifiziert und zu großen Opfern an Anpassung, Stress und Vereinsamung an Bord bereit sein.  Nur aus Edelholz geschnitzte Charaktere halten das noch durch.  Hinzu kommt eine gehörige Portion Glück.

Anfang der 90er Jahre erleben wir im Seemannsheim zum erstenmal freibleibende Betten.  Um den Seeleuten das Haus durch Stärkung der Kasse erhalten zu können, nehme ich 1996 die ersten Touristen zu erhöhten Mietpreisen auf.

Zur Veranschaulichung des Angebotes des Seemannsheimes formuliere ich Anfang der 80er Jahre diesen Text für ein Informationsblatt:

„Der Technische Schiffsoffizier Sven L. fährt seit über 20 Jahren zur See.  Er hat gerade einen anstrengenden Flug von Singapore über Frankfurt hinter sich und verlässt mit Koffer und Seesack das Flughafengebäude in Fuhlsbüttel.  Der hilfsbereite Taxifahrer hat das Gepäck verstaut und fragt nach dem Ziel.  „Seemannsheim Krayenkamp!“  Näherer Erläuterungen bedarf es nicht.  Diese Adresse ist nicht nur allen Seeleuten, sondern auch allen Hamburger Taxifahrern ein Begriff. - Auf der Fahrt durch die Stadt erfährt der Taxichauffeur, Sven L. sei seit zwei Tagen unterwegs.  Er sei in Singapore nach fünfmonatiger Fahrt abgelöst worden und habe erst mal die Nase gestrichen voll.  Die Seefahrt sei heute mit viel Ärger und Stress verbunden, man sehe kaum noch etwas von der Welt, außer Wasser.  In den Häfen sei die Hektik besonders groß und an Land komme man ohnehin fast nur noch nach der Abmusterung.  „Jetzt bin ich jedenfalls froh, endlich mal richtig Urlaub machen zu können.“ - Der Taxifahrer hört diesem Bericht interessiert zu und ist bald beim „Michel“ und gleich daneben in der Straße „Krayenkamp“.  Neben den alten Häusern der Krameramtsstuben steht der rote Backsteinbau des Seemannsheimes neben dem Fahnenmast mit Gaffel und Rah. Im Wind flattert daran die blaue Fahne mit dem weißen Kreuz der Deutschen Seemannsmission. - Sven L. bezahlt die Taxifahrt und trägt sein Gepäck in die Eingangshalle des Seemannsheimes.  Dort wird er sogleich von herumstehenden, angeregt diskutierenden Kollegen begrüßt: Hallo Sven, waren wir nicht vor drei Jahren zusammen auf der WILD EAGLE?  - Sven L. hat Glück.  Vorsorglich hat er von Frankfurt aus telefonisch um Reservierung eines Einzelzimmers im Seemannsheim gebeten, das nun auch für ihn bereitsteht.  Es ist zwar klein, aber sauber und zweckmäßig eingerichtet: Bett, Tisch, Schrank, Kühlschrank, auf Wunsch mit Farbfernseher und hat natürlich warmes Wasser.  Duschen, Speise- und Aufenthaltsräume stehen allen Heimgästen zur Verfügung. - Sven L. zückt seine Brieftasche und entnimmt ihr 9.000,- $.  Er fuhr auf einem ausgeflaggten Schiff und erhielt seine Restheuer in bar vom Funker in die Hand gedrückt.  „Erst mal zur Verwahrung abgeben, bis ich morgen zur Bank komme“, sagt er, „ich bin hundemüde und muss bald in die Koje.“

Im Seemannsheim am Krayenkamp können in 92 Zimmern 135 Seeleute wohnen. Neben den 58 Einzelzimmern, von denen 22 auch als Doppelzimmer belegt werden können, stehen noch 28 Zweibett- und 7 Dreibettzimmer zur Verfügung.  Bei jährlich etwa 2.200 Einzügen zählt man etwa 50.000 Schlafnächte.  Die Bettenkapazität ist zu 99 % ausgelastet.  Die eigene Küche bietet zu sozialen Preisen Frühstück und Mittagessen zur Auswahl zwischen mehreren Menüs.  Rund um die Uhr kann man sich aus Verkaufsautomaten mit belegten Broten, Milch, Obst, Schokolade, kalten Flaschengetränken und heißem Kaffee, Seife, Socken und Süßwaren bedienen.  Fernsehraum, Skatzimmer, Bücherei, Billardraum und Tischtennis, Leih-Fahrräder stehen allen Fahrensleuten zur Verfügung.  Beim heimeigenen Sparkassendienst kann Hein Seemann seine Heuer in Verwahrung geben. - Die Seemannsmission bietet ihren Gästen Veranstaltungen an:  Diskussionsnachmittage im Rahmen des „Seemannssonntags“ bei Kaffee und Kuchen, Diavorträge, Filmvorführungen, Ausflüge, Preisskat und Sportfeste.“

In den 27 Jahren lasse ich mich allenfalls drei- oder viermal zu Weihnachten vertreten.  Schon im frühen Herbst überlege ich mit dem Kollegen Karl-Heinz Hansen oder später mit Jan Borowski, womit wir die Weihnachtspäckchen ausstatten könnten und bestellen Socken, Handtücher, Taschenkalender, Kugelschreiber, Wecker, Taschenmesser, Nähetuis, Schokolade oder was sonst für das Päckchen in Frage kommt.  Anfang Dezember kommt das Damencomité zum Packen.  Am Heiligabend halten wir unsere private Weihnachtsfeier in der Familie meistens schon am Nachmittag, da ich spätestens ab 17 Uhr bis in den späten Abend hinein voll engagiert bin.  In den ersten Jahren sind Monica und die Kinder mit an der Seemannsweihnachtsfeier beteiligt.  Die Töchter spielen Blockflöte oder sagen Gedichte auf und helfen bei der Verteilung der Päckchen.  Meistens beginne ich die Feier gegen 18 Uhr mit einer Christvesper in der Kapelle des Seemannsheimes, die in der Regel brechend voll wird.  Anschließend essen wir gemeinsam mit den Seeleuten, in den 70er Jahren zunächst noch den obligatorischen Kartoffelsalat mit heißen Würstchen.  Dazu gibt es Freibier.  Später lasse ich vom Küchenpersonal auf dem Billardtisch ein kaltes Büfett vorbereiten und bis zum Abend mit Plastikfolie abdecken und schicke die Küchenfrauen mittags nach Hause.  Den heißen Kaffee bereite ich mit Hilfe von Seeleuten selber.    Als in den 90er Jahren der Ausländeranteil immer stärker wird, ändert sich auch der Charakter der Weihnachtsfeiern stark.  

Anfang der 1970er Jahre kann ich Geburtshelfer bei der Gründung der Seemannsfrauenselbsthilfegruppe in Hamburg werden.  Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Seemannsfrauenvereins werde ich als Gast eingeladen.  Die Kapitänsfrau Marlies Schulze schreibt für unsere Jubiläumsschrift folgenden Bericht:

„Wir Hamburger Seemannsfrauen verdanken der Seemannsmission unser Entstehen.  Gegen Ende der sechziger Jahre beschloss mein Mann, nach einigen Jahren des Landlebens, wieder zur See zu fahren.  Und ich wusste, diesmal würde er dabeibleiben.  Unsere Kinder waren neun und zehn Jahre alt, brauchten mich also nicht mehr rund um die Uhr.  Und so fiel ich in das berüchtigte „schwarze Loch“, wusste aber zugleich, dass nur ich selbst mir helfen könnte.  Die größte Schwierigkeit war, immer an Bord zu können, um größere oder kleinere Reisen mitzumachen.  Die Kinder mussten zu Hause versorgt werden, die Großeltern wohnten zu weit weg.  So kam ich auf  die Idee, dass sich doch Seemannsfrauen gegenseitig helfen müssten.  So frei nach dem Motto: „Heute fahre ich zu meinem Mann und du hütest meine Kinder und morgen fährst Du und ich hüte Deine Kinder.“  Mein Problem war also, andere Seemannsfrauen zu finden, um mit ihnen mein Anliegen zu besprechen.  Ich meinte, von einem Seemannsfrauenverein gehört zu haben, suchte im Telefonbuch und fand schließlich nur die Nummer von der Seemannsmission.  Mein Gespräch landete bei Herrn Ruszkowski. - Herrn Ruszkowski erzählte ich von meinem Anliegen und meinen Wünschen.  Von einem Seemannsfrauenverein hatte er noch nie etwas gehört.  Aber er fand es gut, dass endlich mal eine Frau versucht, sich selbst zu helfen.  Und wir versuchten es gemeinsam.  Abwechselnd schrieben wir an die Hamburger Zeitungen, mal waren es größere Artikel, mal nur ganz kurze Mitteilungen.  Bald hatten wir die ersten sieben Frauen beisammen, und wir trafen uns in unserer Wohnung in Bergedorf.  Die ersten Kontakte waren entstanden.  Von dem Zeitpunkt an trafen wir uns regelmäßig, machten aber auch weiterhin Werbung für uns.  So konnten wir uns Ende 1971 mit fast 30 Frauen in der Seemannsmission treffen.  Frau Kaiser aus Cuxhaven, die dort einem Seemannsfrauenverein vorstand, überzeugte uns, dass wir einen Verein gründen müssten.  Sie erzählte uns, wie schön das alles in Cuxhaven funktionierte.  Schließlich gründeten wir einen Seemannsfrauenverein und beschlossen, uns in den Räumen der Seemannsmission zu treffen.  Erwartungsgemäß sprangen bald einige Frauen ab, aber wir blieben doch eine Gruppe von ca. 25 Frauen.  Unseren Treffpunkt verlegten wir dann ins „Haus Lackemann“, Am Stern 14, in Hamburg-Wandsbek.  Wir wollten den Männern im Seemannsheim nicht ihren Versammlungsraum wegnehmen. - Noch heute treffen wir uns regelmäßig einmal im Monat bei Lackemann.  Noch immer sind wir ca. 20 Mitglieder.  Einige sind schon lange dabei, andere sind neu hinzugekommen.  In den Anfangsjahren haben wir ein sehr aktives Vereinsleben geführt, haben Ausflüge und Wanderungen mit den Kindern gemacht, auch wunderbare Weihnachtsfeiern.  Ich erinnere mich gut an eine Feier im Gemeindesaal der Michaeliskirche.  Unsere Kinder mussten dazu beitragen mit Flötenspiel und Gesang.  Und wir hatten einen jungen Mann mit einem Marionettentheater engagiert.  Kaffee und Kuchen brachten wir mit, alle hatten gebacken.  Das waren sehr gelungene Veranstaltungen! - Aber meine ursprüngliche Idee, sich gegenseitig die Kinder zu hüten, hat sich nie realisieren lassen.  Hamburg ist einfach zu groß.  Meine Kinder gingen in Bergedorf zur Schule, da nützte mir eine Seemannsfrau in Blankenese gar nichts.  Aber wir haben alle gewusst, dass wir bei Notfällen die Kinder anderer Frauen zu uns genommen hätten.  Und das war doch ein tröstlicher Gedanke. - Inzwischen sind etwa 20 Jahre ins Land gegangen.  Unsere Kinder sind groß, nur wenige Frauen haben noch kleinere Kinder.  Der Bedarf an Ausflügen ect. ist daher gering.  Inzwischen sind auch einige der Männer bereits Rentner.  Aber noch immer treffen wir uns regelmäßig bei Lackemann.  Wir haben eine Theatergruppe, eine Bowlinggruppe und gehen zusammen in Restaurants.  Auch gibt es naturgemäß einige persönliche Kontakte zwischen einzelnen Frauen.  Oft habe ich in den Jahren den Ausspruch gehört: „Wie gut, dass wir uns haben!“  Der Kontakt zu anderen Seemannsfrauen ist sehr wichtig.  Nur sie können es verstehen, wenn ich vom Warten aufs Schiff in Rotterdam bei Nebel oder am Kielkanal erzähle oder davon, dass ich zwar an Bord war, mein Mann aber keine Zeit für mich hatte.  Andere Frauen würden sagen: „Warum fährst Du dann überhaupt?“  Eine Seemannsfrau versteht, dass ich aller Widrigkeiten zum Trotz beim nächsten mal wieder fahre!  So haben wir eigentlich immer gefunden, dass der Kontakt untereinander der wichtigste Faktor war.  Wir konnten gemeinsam etwas unternehmen, anstatt allein zu Hause zu sitzen, wo uns halt manchmal die Decke auf den Kopf fällt.  Und wenn wir Seemannsfrauen zu Hause zufrieden sind, können wir uns auch leichter mit der Seefahrt unserer Männer arrangieren.“

Am Sonntag, dem 2. Dezember 1979 ist der Norddeutsche Rundfunk mit seinem 1.735. Hafenkonzert mit den Reportern Hermann Schlünz, Herbert Fricke und Rainer Brüggemann bei uns im Seemannsheim zu Gast, um live Interviews mit Seemannspastor Reinke, Karl-Heinz Hansen, drei Seeleuten und mir zu führen.  Diese von Esmarch und dem Rauhhäusler Diakon Friedrich Düwel in den zwanziger Jahren ins Leben gerufene älteste Rundfunksendung wird damals noch jeden Sonntagmorgen weit bis in den Süden Deutschlands ausgestrahlt.  Ein Hörer ruft mich aus Bayern an. - Gegen Ende meiner Zeit im Seemannsheim werde ich noch zweimal Gelegenheit haben, an solchen Interviews im Rahmen des Hafenkonzerts teilzunehmen, einmal in der Weihnachtszeit im Dänischen Seemannsheim und einmal im Schulauer Fährhaus.  Es wird dann aber nur noch im regionalen hamburgischen Bereich ausgestrahlt werden.

 

Rundfunk-, und Zeitungsinterviews über meine Arbeit im Seemannsheim fallen alle paar Monate immer wieder an.  Einmal bringt der Deutschlandfunk eine Reportage über unsere Arbeit in aller Frühe in seinen „Informationen am Morgen“. Mehrere Fernsehberichte über unser Seemannsheim werden gesendet.  Seeleute sind damals noch recht fotogen.  

Ein Journalist des Verlages Gruner & Jahr formuliert 1991 unter der Überschrift „Heimatlos - Seemannslos“:

„Hier sammelt sich Strandgut einer Seefahrt, die zumeist alles andere als christlich ist.  Im „Haus Krayenkamp“ finden die Männer ohne Schiff für kurz oder lang eine Heimat auf Zeit. - Wo er zuhause sei?  Felipe zuckt flüchtig mit den Schultern.  „Por todo el mundo“, überall, murmelt der bärbeißige Mann mit leerem Blick.  Doch dann huscht ein Lächeln über das wettergegerbte Gesicht, als freue er sich über seinen Einfall: „Y tambien en la casa Krayenkamp.“  Haus Krayenkamp, das ist ein rotes, vierstöckiges Backsteingebäude gleich hinterm Michel und zweite Heimat für mehr als 2000 Seeleute im Jahr: Hier unterhält die Deutsche Seemannsmission das größte Seemannsheim der Bundesrepublik. - „Deckshände“ und „Maschinenkulis“ aus 60 Ländern kommen hier unter, wenn sie zwischen zwei Schiffen ein Quartier suchen oder auf den Flug in ihre Heimat warten. Aber eben nicht nur die.  „Wir sind eine Auffangstation“, sagt Heimleiter Jürgen Ruszkowski, 54.  Auffangstation für Männer, die gerade kein Schiff und keine Heuer haben; die „Fußkranken“, die bei der großen Fahrt auf der Strecke geblieben sind.  Denn heute kann einen Seemann so einiges erschüttern: Die Rationalisierung, ob an Bord oder an der Pier, und die Konkurrenz von den „Lappen“, den Billigflaggen, machen den Arbeitsplatz auf hoher See immer unsicherer.  „Die Leute“, weiß Ruszkowski zu erzählen, „die vor 20 Jahren noch mit dem Lasso am Baumwall eingefangen wurden, nur damit ein Seefahrtbuch mehr da war, die halten sich heute kaum noch an Bord.“  - Der Mann weiß, wovon er spricht.  Seit 21 Jahren leitet der Diakon und Sozialpädagoge „sein“ Haus: „Das bedeutet einen 24-Stunden-Job, sieben Tage in der Woche.“  Wen wundert's - bei 50.000 Übernachtungen im Jahr.  Doch nicht allein die Qualitäten eines Hotelmanagers muss Hausvater Ruszkowski Tag für Tag beweisen.  Wichtiger ist, dass er für die Probleme der Männer, die an Land zu stranden drohen, ein offenes Ohr hat.  „Das geht los bei der Hilfe für den letzten Lohnsteuerjahresausgleich bis hin zur Vermittlung einer Fahrt ins Trockendock“ - wie die Entziehungskur für Alkoholkranke unter Betroffenen heißt. - Es kann aber auch bedeuten, dass Ruszkowski nachts raus muss, weil einer der Fahrensmänner zu raubeinig wird und das Mobiliar durch die geschlossene Scheibe geht.  „Das ist dann“, berichtet Ruszkowski, „nicht immer ganz einfach.“  Schließlich sei er für beides verantwortlich: für die Seelsorge und die Ruhe im Haus.  Doch in solchem Zwiespalt steht der Heimleiter nicht allzu oft.  „Die meisten Gäste wollen einfach nur ein Dach über dem Kopf  und eine warme Mahlzeit.“ - Seine Ruhe, die will auch Felipe haben.  Er wartet auf ein Schiff, bei dem er wieder anmustern kann.  Am besten eins mit Kurs auf Cadiz.  Da kommt er her.“

Ein Zeitungsreporter beschreibt meine Arbeit im Seemannsheim Anfang der 90er Jahre: 

„Da stand er nun, der brave Matrose, ziemlich allein gelassen dort an der Pier.  Fremd war ihm die Stadt, zu groß und zu laut.  Müde blickte er zum Schiff zurück.  Streit in den letzten Wochen, der ihm noch in den Ohren dröhnte.  Wohin jetzt, wo ausschlafen?  Was sich beinahe wie ein kitschig-verbrämter Werbespot-Anfang liest, war und ist für viele in Hamburg gelandete (oder angeschwemmte) Schiffsleute ein Problem.  In früheren Zeiten machten, gerade wenn die nächste Heuer noch lange nicht in Sicht war, die Heuerbaase ein gutes Geschäft mit ortsunkundigen Matrosen.  Diese Wirtsleute aus St. Pauli fuhren im letzten Jahrhundert den ankommenden Schiffen mit Ruderbooten auf der Elbe entgegen, um ihre Dienste anzubieten.  Da wurden auf den letzten Kilometern vor den Landungsbrücken schon Verträge abgeschlossen:  Zimmer mit Frühstück.  Zwar hatte es auch in den 1870er Jahren schon kleinere Heime unten am Pinnasberg gegeben, meist von christlichem Engagement inspiriert, aber diese Wohltätigkeit stieß schnell an finanzielle Grenzen.  So blieben oft nur die ausgefuchsten Heuerbaase, die manchmal auch Menschenhändler waren.  Mit guten Kontakten zu den Hamburger Kontoren und Reedern versehen, hatten sie ihre Gäste, die im ersten Rausch des Landgangs kräftig Schulden gemacht hatten, bald in der Hand.  So kassierten sie bei einem neuen Job ihrer Mieter gleich noch eine Vermittlungsgebühr.  Dann kamen aber Anfang dieses Jahrhunderts die deutschen Seemannsmissionare auf den Gedanken, dass Traktätchen, Bordbesuche und gelegentliche Bibelstunden allein zwar Gott freuten, den Matrosen aber nicht immer direkt halfen.  1906 eröffnete die Seemannsmission am Wolfgangsweg ihr erstes Hamburger Heim.  Heute dient dieses Haus als Seefahrer-Altenheim, die eigentliche 'Herberge' zog 1959 in ein größeres Gebäude am Krayenkamp um, zu Füßen des Michel. - An der Glastür steht „Hausvater“ doch der Mann, der dahinter residiert, ist ein bisschen mehr als nur eine Art Herbergsvorsteher.  Offiziell ist Jürgen Ruszkowskis Stelle die eines Diakons, doch er selbst bezeichnet sich als „Manager, Sozialpädagoge und Rausschmeißer in einer Person“ - mit 70-Stunden-Woche.  Sein Gehalt und das eines weiteren Diakons, der für Besuche an Bord der Schiffe und Hilfe bei Behördengängen zuständig ist, wird von der Nordelbischen Kirche gezahlt, aber die Kosten für die übrigen 16 hauptamtlichen Mitarbeiter trägt der Verein Seemannsmission selbst.  „Ohne unsere Zivildienstleistenden“, gibt der 56jährige Ruszkowski zu, „würden wir nicht zurechtkommen, selbst bei optimaler Belegung.“  Jahrelang war lediglich mit Voranmeldung eines der 135 Betten im Seemannsheim zu ergattern.  Radio Norddeich besorgte die Voranmeldung.  Doch die Schifffahrtskrise zeigte auch hier Ende der 80er Jahre Wirkung, die Belegung ging etwas zurück.  Wegen des ständigen Andrangs gab es in der Hausordnung einen Passus, der den Aufenthalt auf vier Wochen begrenzte.  Der wurde vor einigen Jahren gestrichen.  „Wegen der Verlängerung des Urlaubs und der Arbeitslosigkeit bei Seeleuten blieben viele doch länger hier“, erklärte Jürgen Ruszkowski, „und sie dann deswegen rauszuwerfen, wenn doch öfter Betten frei waren, das wäre ja unsinnig.“  Seit der Öffnung der östlichen Grenzen ist jedoch wieder fast jede Nacht jedes Bett belegt.  Die Preise hat das Seemannsheim seit über zehn Jahren stabil halten können, zwischen 8,50 und 20 Mark müssen pro Übernachtung gezahlt werden, ohne Frühstück. Aber das gibt's für 2 Mark 50 auch im Haus, ferner ein Fernsehzimmer, Tagesräume, eine Bücherei, Billard und andere Freizeiteinrichtungen. - Wieso sich Ruszkowski manchmal als Rausschmeißer betätigen muss?  „Nicht zuletzt wegen der Arbeitslosigkeit der letzten Jahre sind einige Ex-Seeleute sozial doch stark herabgesunken.“  Aus alter Anhänglichkeit und in der Hoffnung auf das weiche Herz des „Hausvaters“ kommen sie dann nachts und wollen auf der Bank des Fernsehzimmers schlafen.  „Man drückt mehr Augen zu als man hat“, sagt Ruszkowski lakonisch, „aber wenn es dann mit Betrunkenen Ärger gibt, schreckt das wieder andere ab.  Das können wir uns nicht leisten.“   Einige Problemfälle kennt er noch gut von früheren Aufenthalten.  Geschichten kann er erzählen von Matrosen, deren Ehe der langen Abwesenheit wegen in die Brüche gegangen ist.  Geschichten von wieder anderen, die trotz guter Vorsätze Ihr Geld nicht bei der heimeigenen Sparkasse abgaben und dann 7.000 Mark in einer Nacht auf den Kopf gehauen haben.  Von derartigen kleinen und größeren Katastrophen ist es nicht allzu weit bis zur Alkoholkrankheit.  „Mit guten Kontakten kann ich manchmal helfen“, meint Ruszkowski, „aber wenn die Männer wirklich abhängig werden und eine Kur ablehnen, dann müssen sie hier 'raus.“  Aber auch Beispiele erfreulicherer Anhänglichkeit gibt es: einen 80jährigen aus Holland, der regelmäßig Sehnsucht nach Hamburger Hafenluft bekommt.  Voll nostalgischem Stolz legt er dann sein letztes Seemannsbuch zur Legitimation vor und quartiert sich für drei, vier Tage im Krayenkamp ein, bevor er wieder gen Westen entschwindet.

 

Eine Übernachtungsstatistik von 1970 sagt, dass damals 13 % der Heimgäste aus dem Ausland kamen.  Inzwischen sind es zwei Drittel aller Bewohner, die aus über 60 verschiedenen Ländern kommen.  Türken, Spanier und Portugiesen sind von den Europäern am stärksten vertreten.  Hinzu kommen viele Südamerikaner, Afrikaner aus Burkina Faso und Ghanesen, Filipinos, Indonesier und Kiribati-Matrosen (ehemals Britisch St. Gilbert).  Probleme zwischen deutschen und ausländischen Seeleuten gibt es immer weniger, eine neue Generation der circa 30jährigen ist offener und weniger nationalistisch.  Sätze wie „Aber nicht mit 'nem Kanaker oder Schwarzen auf das Zimmer“ hört man nur noch selten.  Der internationale Konkurrenzkampf und das Schimpfen über die „Lappen“ - so nennt man intern die Billigflaggen - führen nicht zu Konfrontationen.  Ein Sprachproblem gibt es ohnehin nicht:  Englisch verstehen fast alle, zur Not dolmetschen andere Seeleute oder die spanische Putzfrau.  In die rar gewordenen Jobs an Bord drängen außer den einfachen Matrosen auch immer mehr qualifizierte Ausländer, in der Regel billiger, zumeist unter offiziellem deutschen Tarif.  „Viele Patentinhaber kommen jetzt aus Polen, den Philippinen und anderen asiatischen Ländern“, erklärt Jürgen Ruszkowski.  „Inzwischen ist deren Ausbildung oft auch nicht schlechter als die der deutschen Bewerber.“ - Der 'Hausvater' leitet seit 21 Jahren das Seemannsheim, kennt die legendäre weite Welt vor allem aus den Erzählungen seiner Besucher.  Ein kleiner Ausschnitt davon hängt allerdings an der Wand seines Büros.  Nein, keine Landkarte, sondern Mitbringsel der Matrosen, meist aus ihrer Heimat, Gastgeschenke.  Da hängen Perlenketten neben afrikanischen Holzmasken und handgeschnitzten Frauenstatuen, Schiffsmodelle und ein Tableau mit unzähligen Schifferknoten.  Ein veritables Haifischgebiss ist imposanter Mittelpunkt dieser museumsreifen Sammlung.  Jürgen Ruszkowski lacht: „Das Ding hat ein Seemann einem an Bord geangelten Hai ausgeschlachtet und mitgebracht. Es hat anfangs unglaublich gestunken, man konnte fast nicht in diesem Raum arbeiten.  Ich mußte es erst mit Formalin konservieren.“ - Wie sieht er die Zukunft des Heims, wird er seine Kostbarkeiten womöglich in nicht allzu ferner Zeit verkaufen müssen, um das Haus zu retten?  „Na, hoffentlich nicht“, entgegnet Ruszkowski, „aber es wird knapp.“  Seine Stelle ist bereits mit dem ominösen KW-Vermerk (Keine Wiederbesetzung) ausgestattet, ein deutliches Alarmsignal.  Aber noch macht der Job ihm Spaß:  „Ich habe viel Freiraum hier, und dieses Haus aufrechtzuerhalten und anbieten zu können, das ist täglich Befriedigung und Ansporn.“  Draußen vor der Tür, kurz vor der benachbarten Kneipe mit dem schönen Namen „Taifun“, stolpere ich beinahe über einen Farbeimer.  Oben auf der Leiter ein fleißiger junger Mann.  Wie hatte Jürgen Ruszkowski vorhin angesichts des 50er-Jahre-Designs des Hauses freudig gesagt?  „Wir haben jetzt einen Zivildienstler, der Maler gelernt hat.  Da können wir mal wieder die Zimmer renovieren und die Fenster streichen.““

Mit Hein Seemann auf Tuchfühlung

Meine anfänglichen Befürchtungen, dass ich mit den Seeleuten disziplinarisch laufend Ärger haben könnte, bestätigen sich nicht.  Das soziale Bild des Seemannes der 1970er Jahre ist von dem der 90er sehr verschieden.  Unter den Seeleuten gibt es damals viele angepasste, ehrenwerte und charakterlich wertvolle Männer, aber doch auch jene Typen, wie sie von der Gesellschaft als Klischee-Seemann gesehen werden: Abenteurer, Haudegen, trinkfeste Draufgänger.  Alkoholmissbrauch spielt bei einigen schon eine tragische Rolle, wird aber sicher kaum dramatischer sein als in anderen Berufssparten, wie etwa auf dem Bau oder bei Journalisten.  Bei einigen Alkoholikern muss ich über die Jahre den langsamen Abstieg in die Gosse beobachten, ohne ihn aufhalten zu können, so bei „Kugelblitz“, „Becksbierberni“ und Rudi Sch. aus Ostpreußen, der mir später öfter als Stadtstreicher begegnet.  Für fast alle gilt der Liedrefrain:  „Ein Kerl wie Samt und Seide, nur schade, dass er suff.“  Bei einigen gelingt es mir, sie bei eigener Einsicht ins „Trockendock“ zu vermitteln.  Einige bleiben danach trocken, andere haben Rückfälle.  Leider ist es ein typisches Symptom der Krankheit Alkoholismus, dass die Einsichtsfähigkeit eingenebelt wird.  Ich erlebe im Seemannsheim bei einigen Männern mehrmals Diliriumanfälle.

Am 11.10.1979 berichtet mir der Nachtpförtner:  „Zitternd stand heute in der Nacht ein Verrückter vor mir, ich solle ihm schnell die Polizei rufen, denn in seinem Zimmer seien Hunderttausende Ratten.  Ich antwortete ihm, das solle er mal selber machen, den Unsinn glaube mir sowieso keiner.“  Er rief dann tatsächlich noch Polizeibeamte, die mitspielten und nach den angeblich laufenden Ratten traten.  Am nächsten Morgen, als ich ihn ansprach, sah der Mann, es war der 34jährige Karl P., immer noch Ratten, reagierte ansonsten aber normal.  Plötzlich klopfte es in einem Zimmer im 2. Stock von außen ans Fenster.  Karl P. klammerte sich von außen an das Fenster.  Er war offenbar an der Fassade heruntergeklettert.  Nur mit Mühe konnte er vor dem Absturz bewahrt werden.  Der sofort herbeigerufene Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus. 

Am 7.11.1979 hat der 43jährige Fischdampfermatrose Horst Bruno G., der erst seit wenigen Tagen bei uns wohnt, Halluzinationen.  Er kommt aufgeregt und schweißüberströmt ins Büro: „Hausvater, oben in der Toilette singen meine Nachbarn Arien.“  Er fühlt sich von ihnen verfolgt und belästigt, schnappt sich, als wir zusammen oben nachsehen wollen, einen Schrubberstiel vor der Tür und schwenkt ihn drohend über seinem Kopf.  Als ich ihn davon überzeugen kann, dass die Toilette leer ist, hört er die Stimmen nebenan.  Mit Glück und Mühe gelingt es, ihn per Krankenwagen zur Behandlung ins Krankenhaus zu schaffen.  

Im Delirium wirft ein polnischer früherer Kapitän seinen „Sohn“ aus dem Fenster und ist danach todunglücklich.  Er ist nicht davon zu überzeugen, dass es nicht sein Sohn, sondern nur die Kaffeemaschine war.

Einige herausragende Ereignisse im Seemannsheim seien hier noch erwähnt:

An einem Sonntagnachmittag Anfang der 70er Jahre halte ich im Wohnzimmer Mittagsschlaf.  Ich hatte den Telefonkontakt herausgezogen.  Plötzlich sehe ich blinkendes Blaulicht vor dem Fenster und auf der Straße sechs Peterwagen.  Ich gehe sofort in die Eingangshalle.  Das Haus ist voller Polizisten.  Niemand darf hinaus und herein.  Der „Mörder“ wird gesucht.  Der Pförtner erklärt mir, da sei jemand mit klaffendem Bauch und heraushängenden Eingeweiden fast nackt und blutüberströmt von oben die Treppe heruntergekommen, habe vor der Pförtnerloge kurz verharrt und sei dann aus dem Hause auf die Straße gelaufen. Eine Passantin, die ihn sah, fiel in Ohnmacht.  Das ist ein aufregender Sonntag im Seemannsheim.

Blutend wankte er zur Wache“  Unter dieser Überschrift meldet die Zeitung:

„Ein blutüberströmter Mann wankte gestern Mittag in die Revierwache 13 an der Martin Luther-Straße.  „Messer, Messer...“ stammelte er, dann brach er zusammen.  Der nur mit einer Badehose bekleidete Verletzte wurde sofort ins Hafenkrankenhaus gebracht.  Die Ärzte stellten eine 30 Zentimeter lange Schnittwunde am Bauch, Messerstiche an der Kehle und am linken Unterarm fest. - Die Ermittlungen der Mordkommission ergaben bis Redaktionsschluss, dass es sich bei dem Verletzten um den 34 Jahre alten Seemann Günther L. handelt.  Er war gestern Nachmittag aus seinem Zimmer im Seemannsheim am Krayenkamp in der Neustadt getaumelt und trotz seiner Verletzungen noch bis zur Revierwache 13 gelaufen.  „Wir sehen noch nicht klar“, sagte ein Beamter der Mordkommission.  „Er kann sich die Verletzungen auch selbst beigebracht haben.“

Nach stundenlanger Spuren- und Tätersuche und Fahndung nach dem verreisten Zimmernachbarn stellt sich heraus: Der fast „Ermordete“ hatte sich selber vor dem Spiegel mit einer zerschlagenen Bierflasche den Bauch aufgeritzt.  Man flickt ihn auf der Intensivstation des Hafenkrankenhauses wieder zurecht und  bringt ihn durch.  - Was es alles gibt?!

In der Eingangshalle hängt ein von einem Seemann gestiftetes Segelschiffmodell.  Nachdem es dort monatelang friedlich geschwebt hat, ist es eines Tages verschwunden.  Einer der Seeleute hat eine Vermutung, wer der Dieb sei und wo er zu finden sein könnte.  Zusammen klappern wir in der Ditmar Koel-Straße mehrere Kneipen ab.  Tatsächlich ertappen wir den „Knaben“ in einer der Pinten, wie er gerade dabei ist, unser Schiffchen meistbietend an den Mann zu bringen.  Er setzt ich nicht zur Wehr und trottet sogar an meiner Seite mit zur Polizeiwache.  Das Schiffsmodell hängt danach wieder jahrelang in der Halle des Seemannsheimes, bis es eines Tages erneut und diesmal endgültig verschwunden ist.  Ein weiteres, weitaus wertvolleres, das ein Seemann in monatelanger Kleinarbeit gebastelt hatte, wird sogar aus dem Speisesaal geklaut, der immer verschlossen ist, wenn der Küchenbetrieb ruht.

Am 1.7.1984 wird nachts der Pförtner von dem im Haus wohnenden, am 31.1.53 in Bochum geborenen, Schiffskoch Wolfgang S. unter Todesandrohung beraubt.  Die Presse meldet: „Ein Gangster setzte nachts dem Pförtner des Seemannsheimes Krayenkamp (Neustadt) ein Messer an den Hals, raubte 600 Mark.  Entkommen.“  Der Täter wird gefasst und mit Urteil vom 23.11.1984 mit 5 Jahren und 6 Monaten Haft belegt. 

Zweimal schlägt unser Sohn während unserer Abwesenheit Einbrecher in die Flucht, die es auf unsere Wohnung abgesehen haben.  Es kommt dann aber doch noch zu einem vollendeten Wohnungseinbruch.  Nachts bricht ein Hausbewohner unsere Wohnungstür auf und raubt einen Teil der Sachen, Schmuck, Kleidung ect. aus.  Der Täter, der unter unserem eigenen Dach wohnt, leistet ganze Arbeit.Kurze Zeit später bricht er auch in die Küche ein.  Anhand seines Fußabdrucks kann ich ihn identifizieren.  Das Tatwerkzeug, einen Kuhfuß, kann ich in seinem Schrank sicherstellen.

Am 31.3.1980 notiere ich: „P. H., ehemaliger Fürsorgezögling in Freistatt, wohnt seit Jahren immer wieder im Seemannsheim.  Er soll zu Alkohol noch Valium schlucken.  Wenn er seine Saufphasen hat, bekommt er funkelnd glasige Augen und muss sich produzieren:  Er näht sich Knöpfe auf die nackte Haut, steckt sich Rasierklingen durchs Ohrläppchen und behauptet, er habe einige Jahre Zuchthaus hinter sich, nachdem er seine Frau umgebracht habe.“  23.3.1982: Peter hat eine neue Masche: „Ich verkaufe eine Niere, um an Geld zu kommen.“  Einige Tage später: „...geht aber leider nicht, weil ich zu sehr durch Alkohol geschädigt bin.“  Am 23.4.1983 gegen 23 Uhr hallt ein Schuss durchs Haus - und gleich danach noch drei Schüsse, ein Hilfeschrei und laute Stimmen.  Ich laufe durch den Kellergang zum Haupttreppenhaus:  Vor dem Duscheneingang liegt ein Seemann: Bernd Krüger (28).  Er stöhnt und bewegt sich kaum.  In der Eingangshalle höre ich von den dort zusammenlaufenden Seeleuten, Peter H. habe geschossen und sei flüchtig.  Sofort verständige ich Polizei und Rettungswagen, die kurz darauf eintreffen.  Mehrere Peterwagen sperren die Straße ab.  Wiederbelebungsversuche, künstliche Beatmung.  Der Notarzt trifft ein.  Alle Anstrengungen sind umsonst.  Bernd Krüger ist tot.  Die Kripo kommt, später die Mordkommission.  Das Haus ist abgesperrt.  Niemand darf hinaus.  Vor dem Hause, hinter dem Seemannsheim im Nachbarhof, überall Blaulicht.  Vernehmungen und Spurensicherung dauern bis 3 Uhr in der Nacht.  Morgens wird bekannt: P. wurde in der Nacht festgenommen.  BILD berichtet unter der Schlagzeile: „Amok im Seemannsheim: Viermal feuerte der Mörder auf sein Opfer“ und „‚Buddelschiff-Seemann’ sagte der Große - da erschoss ihn der Kleine.“ 

Im „Hamburger Abendblatt“ berichtet Robert Boeckmann in der Ausgabe vom 26.3.1982 unter der Überschrift:

 „Den Schützen schnell gefasst. - die Pistole hatte er noch in der Tasche“ 

„Ein Großaufgebot von Kripo und Schutzleuten füllte die Eingangshalle des Deutschen Seemannsheimes am Krayenkamp (Neustadt), vernahm mitten in der Nacht Zeugen und sicherte die Spuren eines Verbrechens:  Der 28jährige Seemann Bernd K. war, wie berichtet, in dem Heim mit drei Schüssen getötet worden.  Die Kripo war noch mit Vernehmungen am Tatort beschäftigt, da klingelte um Mitternacht beim Pförtner das Telefon - an anderen Ende der Leitung fragte die Stimme des Täters: „Ist das Schwein schon tot?“ - An den Glastüren des Eingangs waren der nur 160 Zentimeter große Peter H. (39) und sein späteres Opfer Bernd K. zwei Stunden zuvor heftig aneinandergeraten.  „Sie schrieen sich laut an“, berichten die Seeleute, die Zeugen des anschließenden Verbrechens wurden: Peter H., der erst seit vier Wochen im Seemannsheim am Michel wohnte, lief plötzlich in sein Zimmer 313 im dritten Stock und holte seine 7,65-mm-Walther PPK, eine bei der Kripo gebräuchliche Dienstwaffe. - Heimbewohner Reinhard Kowalke (43) zum Abendblatt: „Dann kam er die Treppen heruntergestürzt, lief ins Freie, gab dort einen Schuss ab und kam wieder herein.  Wir waren wie gelähmt, als der Peter viermal auf Bernd abdrückte!“ - Der 28jährige ehemalige Schiffsoffizier Bernd K., der seit vorigem Jahr im Heim am Krayenkamp lebte, wurde von drei Kugeln aus zwei Metern Entfernung getroffen.  Ein Schuss traf ihn ins Herz.  Das Opfer konnte sich aber noch in einen Kellerraum schleppen, wo er vor dem Duschraum tot zusammenbrach.  Der Schütze war inzwischen geflüchtet. - Kurze Zeit später lief eine Großfahndung der Polizei an.  Zivilbeamte mit Hunden klapperten umliegende Lokale ab, Peterwagen streiften durch die Neustadt.  Kurz nach drei Uhr entdeckten die Beamten von „Peter 15/1“ (Davidwache) auf dem Schaarmarkt (Neustadt) einen kleinen Mann auf einem Fahrrad, auf den die Beschreibung genau passte.  Die drei Beamten sprangen aus ihrem Streifenwagen, liefen auf den Mann zu und überwältigten ihn, bevor er sich zur Wehr setzen konnte.  In einer Jackentasche von Peter H. fanden die Polizisten die durchgeladene und entsicherte Waffe. - Belanglose Streitigkeiten und Hänseleien sollen nach den bisherigen Ermittlungen der Mordkommission zu der tödlichen Auseinandersetzung im Seemannsheim geführt und Peter H. soll außerdem unter Tabletten- und Alkoholeinfluss gestanden haben.“ 

Bei der Gerichtsverhandlung muss ich als Zeuge aussagen.  Am 21.3.1983 bekomme ich einen Brief von P. H. aus dem Knast: 

„Lieber Herr Ruszkowski!  Hiermit möchte ich in schriftlicher Form um Verzeihung bitten für die Schande, die ich durch mein Verbrechen über Ihr Haus gebracht habe.  Als ich Sie im Gerichtssaal persönlich darum bat, musste ich leider abbrechen, sonst hätte ich dort wahrscheinlich losgeheult.  Sicherlich verstehen Sie mich, wie mir da zumute war...“

Am 19.3.1985 schwitze ich Blut und Wasser, weil die Krankenwagenbesatzung einen bei einer Messerstecherei schwerverletzten Afrikaner nicht transportieren will und der Notarzt ewig auf sich warten lässt.  Dem Afrikaner war mit einem Messer in den Rücken gestochen worden.  Kurz vorher hatte ich die Memoiren des Chirurgen Sauerbruch gelesen und wusste, was bei Verletzung des unter Unterdruck stehenden Brustkorbs passieren kann.  Die Presse meldet tags darauf: 

„Bei einem Streit im Deutschen Seemannsheim am Krayenkamp (Neustadt) ist der 33 Jahre alte Assad A. aus Ghana verletzt worden.  Der Ghanaer hatte mit einem anderen Seemann Billard gespielt, plötzlich gerieten sich die beiden in die Haare.  Assad A. erhielt einen Messerstich in den Rücken und brach lebensgefährlich verletzt zusammen.  Der Täter flüchtete.  Nach den Ermittlungen der Mordkommission handelt es sich bei dem Täter um den 30 Jahre alten Brasilianer Salomao Brum aus Rio de Janeiro...“ 

Der Verletzte wird dann doch noch ins Krankenhaus geschafft.  Man bringt ihn durch und einige Wochen später spielt er wieder bei uns Billard.

Am Morgen des 11.12.1985 kommt um 5.45 Uhr der Seemann Wolfgang M. von draußen ins Seemannsheim zurück und bittet den Pförtner, ihn um 8.30 Uhr zu wecken.  Der entgegnet: „Ich kann es zwar für meine Ablösung notieren, aber nicht fest versprechen, weil ich dann nicht mehr im Dienst bin.“  M.: „Dann will ich mein Geld zurück haben.“  Pförtner: „Mieten darf ich nicht zurückzahlen.  Das geht nur im Büro.“  M.: „Dann will ich den Chef sprechen!“  Pförtner: „Den kann ich so früh nicht wecken.“  Mit einem Schimpf-Wortschwall schlägt M. die Pfortenscheibe aus Sicherheitsglas in Sprünge. - Am selben Morgen wird in unserer Dienstwohnung das Küchenfenster eingeworfen.

Am 20.12.1986 kommt der Ex-Seemann und frühere Heimbewohner W. H. ins Büro, baut sich provozierend auf, beschimpft mich und droht:  „Dir hau ich noch mal die Scheiben ein, auch wenn du jetzt Jalousien davor hast, das schwör’ ich dir!“

Am 9.4.1987 fordere ich morgens um 7.45 Uhr den 29jährigen Gast J. K. auf, sein Zimmer zu räumen und auszuziehen.  Er steht auf der Fensterbank, springt plötzlich von oben auf mich herab und schlägt mir im Springen mit der Faust ins Gesicht.  Von der Wucht des Sturzes falle ich zu Boden.  K. schlägt weiter auf mich ein und lässt erst von mir ab, als Mitarbeiter mir zur Hilfe kommen.  Mit blutender Wunde an der linken Augenbraue, einem Bluterguss um das linke Auge und Prellungen an Oberlippe und Arm komme ich davon.  K. war schon vorher durch anormales Verhalten aufgefallen und hatte im Hause erzählt, er sei in psychiatrischer Behandlung gewesen.  Auch soll er Barbiturate (Marihuana) geraucht haben.  K. flüchtet nach dem Vorfall und wird nicht mehr gesehen.

W. V., genannt „Ketten-F.“, wollte mit aller Gewalt reich werden.  Sein Handel mit aus den Philippinen importierten Muschelketten und anderem Modeschmuck florierte nur wenige Monate, obwohl es für ihn das Geschäft des Lebens zu werden versprach.  Auf mein Zureden hin hatte er ein kleines nautisches Patent erworben und fuhr nun stolz auf ausgeflaggten Schiffen auf der Brücke als zweiter Offizier: „Welch ein erhabenes Gefühl, jetzt von der Brücke aus zuzusehen, wie die anderen den Rost schrubben!“  Eines Tages im Februar 1979 höre ich in den Rundfunknachrichten, die amerikanische Küstenwache habe den größten Haschisch-Schmuggel aller Zeiten auffliegen lassen. 

Das „Hamburger Abendblatt“ berichtet am 19.2.1979 unter der Überschrift: 

Unter Deck lagen 20 Tonnen „Stoff“   - US-Küstenwache entdeckte Schmugglerschiff:

Der 38jährige Hamburger W. sowie der ebenfalls aus der Hansestadt stammende 53 Jahre alte Christen C. und der aus Bremen stammende Kapitän Heinrich H. sitzen seit dem Wochenende in einem New Yorker Gefängnis.  Sie müssen sich im Zusammenhang mit dem größten Rauschgiftfang der amerikanischen Geschichte verantworten. - Die drei Deutschen hatten mit dem 483-BRT-Frachter „OLAUG“ 20 Tonnen Haschisch im Wert von 40 Millionen Dollar in die Vereinigten Staaten schmuggeln wollen.  Der Frachter war von einem Piloten der Küstenwacht entdeckt und als verdächtig eingestuft worden.  Beamte der Küstenwacht und des Zolls stoppten das Schiff, um die Laderäume zu durchsuchen. - Sie entdeckten rasch das Rauschgift, das die Schmuggler in Lastwagenschläuche gefüllt hatten.  Über den prall gefüllten Schläuchen lagen leere Säcke.  Es wird vermutet, dass der wahrscheinlich unter liberianischer Flagge fahrende Frachter das Haschisch im Hafen von Larnika auf Zypern geladen hat.  Nach Mitteilung der New Yorker Staatsanwaltschaft soll das Schiff einem Deutschen gehören, dessen Name jedoch nicht genannt wurde.  Auf dem Frachter befanden sich auch fünf Amerikaner, die ebenfalls in Haft genommen wurden.

Wolfgang V. wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.  Ich schicke ihm auf seinen Wunsch von seinem bei uns lagernden restlichen Verwahrgeld regelmäßig den „Spiegel“ in den Knast.  Später wird er nach Deutschland ausgeliefert und sitzt in Bremen ein, wo ich ihn einmal besuche.  Er wird vorzeitig entlassen. 

Holger B. ist 42 Jahre alt, als er im Seemannsheim aus dem Leben scheidet.  Er hatte es in Kindheit und Jugend schwer mit seinem Vater gehabt.  Mit seiner Mutter stand er sich gut, aber diese hatte auch unter dem autoritären Wesen des Vaters zu leiden.  So ging er früh aus dem Hause und als Motorenwärter zur Seefahrt.  Bei Reisen nach Asien lernte er die fernöstliche Lebensauffassung schätzen und schwärmte für indische und thailändische Kulturen.  Er meinte auch, dass ihm Haschisch neue Welten erschließen könne.  Mit einigen Freunden zusammen inhalierte er regelmäßig diese für seine Begriffe harmlose Droge. - Seit 1972 war er bei seinen Hamburg-Aufenthalten immer wieder im Seemannsheim am Krayenkamp abgestiegen und dort wegen seines umgänglichen Wesens sehr gerne gesehen.  Eines Tages erzählt er mir, er habe Halluzinationen gehabt, „wie damals in Asien“: Mitten in der Hamburger Innenstadt auf der Mönckebergstraße sei ihm ein Dinosaurier begegnet.  Auch habe er eine Erscheinung seiner Mutter erlebt.  Am darauffolgenden Tage alarmieren mich Seeleute, ein Mann hänge im vierten Stock draußen am Fenster.  Es bietet sich mir, als ich die Treppen hinaufeile, ein bedrohliches Bild:  Holger B. hängt 20 Meter hoch draußen am Hause, klammert sich mit den Händen am Fenster fest und steht mit einem Bein auf dem Dachvorsprung.  Er blickt mit vor Angst und Entsetzen verzerrtem Gesicht wild um sich und zuckt nervös, wenn man sich ihm nähert.  Es erscheint mir nicht geraten, zu dicht an ihn heranzugehen und völlig unmöglich, mit ihm ein Gespräch zu beginnen.  Die bereits von Nachbarn informierte Feuerwehr ist bereits zu hören und trifft wenige Minuten später mit einem ganzen Löschzug am Hause ein.  Doch bevor noch ein Sprungtuch gespannt werden kann, springt Holger, nachdem sich ihm ein Feuerwehrmann offenbar zu dicht genähert hatte, ab und stürzt in die Garagenauffahrt.  Sofortige Wiederbelebungsversuche mit künstlicher Beatmung, Sauerstoffzufuhr und allen Bemühungen des kurze Zeit später eintreffenden Notarztes bleiben leider erfolglos. Der Vorfall sorgt für große Aufregung und Betroffenheit unter den Gästen des Seemannsheimes. - Neun Tage später wird Holger in Begleitung einiger seiner Freunde auf dem Seemannsfriedhof in Ohlsdorf zur letzten Ruhe gebettet.

Am 20. November 1987 kommt H. E. (26 J.), wohnhaft im vierten Stock unter dem Dach, von einer Zechtour von St. Pauli ins Seemannsheim zurück.  Dort hatte er bereits einem Kollegen, mit dem er sich über den zwei Wochen vorher erfolgten tragischen Fenstersturz des Holger B. unterhalten hatte, angekündigt, er werde in dieser Nacht noch eine Aktion aus Protest gegen die Arbeitslosigkeit unter Seeleuten starten.  Im Seemannsheim angekommen, erzählt er dem Pförtner, er wolle nun aufs Dach klettern und herabspringen.  Der hält das für einen schlechten Scherz, muss sich aber kurz darauf von H.s Zimmerkollegen berichten lassen, dieser sei tatsächlich aus dem schrägen Dachfenster aufs Dach hinausgeklettert und sitze nun auf dem vorspringenden Sims zur Straßenseite hin, mit den Beinen nach unten baumelnd.  Der Nachtpförtner weckt mich sofort und ich alarmiere erst die Polizei, besonders darum bittend, ohne Blaulicht und Martinshorn anzurücken und überzeuge mich dann selber von der Lage.  Da es mir nicht möglich ist, Hartmut zu bewegen, wieder ins Zimmer zurückzukommen, rufe ich mit Hilfe der inzwischen eingetroffenen Polizeibeamten die Feuerwehr, die ebenfalls ohne akustisches Aufsehen heranrückt und außer Sichtweite des „lebensmüden“ H. in Stellung geht.  In Kürze sind die Straßen um das Seemannsheim voller Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge.  Das Sprungtuch wird lautlos, aber zügig in aller Perfektion aufgespannt.  Zunächst verhandeln wir mit dem auf dem Dach sitzenden Hartmut vom Fenster seines Zimmers aus.  Er verlangt nach einem Reporter der BILD-Zeitung.  Inzwischen ist ein Feuerwehrmann aus dem Fenster aufs Dach hinausgestiegen, hatte sich aber vorher seines Schutzhelmes und seiner Uniformjacke entledigt und sich als Zeitungsreporter ausgegeben.  Man hat auch den katholischen Polizeipastor herbeigerufen, der in ähnlichen Situationen schon öfter einschlägige Fähigkeiten bewiesen hatte.  Der Pfarrer, der „BILD-Reporter“-Feuerwehrmann, zwei Freunde des Hartmut und ich versuchen abwechselnd mit allen Mitteln der Überredungskunst, mit Ablenkungsmanövern, Annäherungsversuchen und allerlei Lock- und Überzeugungskünsten vier Stunden lang, Hartmut zum Abbrechen seiner „Protestaktion“ zu bewegen.  In seinem stark alkoholisierten Zustand redet er, mit den Armen gestikulierend und auf dem Dachsims sitzend von der Not Tausender arbeitsloser Seeleute, weist pathetisch auf den nahen Michel, spricht vom bevorstehenden nahen trostlosen Weihnachtsfest und droht immer wieder, er werde abspringen.  Inzwischen hat die Feuerwehr eine Leiter ausgefahren, deren oberes Ende nahe seinem Standort ist.  Sobald ein Feuerwehrmann aber Anstalten macht, sich ihm über die Leiter oder aus dem Fenster zu nähern, rückt er weiter und unter ihm ebenso die vor Kälte mit den Füßen stampfenden etwa zehn Männer mit dem Sprungtuch.  Eine zweite Leiter wird inzwischen von der anderen Seite her hochgefahren.  Mit Megaphon fordert die Polizei Hartmut von unten her zu Ruhe und Besonnenheit auf.  Der sitzt weiterhin im Strahl der Feuerwehr-Scheinwerfer und lässt sich weder von den Männern auf den Leitern, noch von denen an den Fenstern beeinflussen.  Nachdem er dann nach vier Stunden von den beiden Leitern in die Enge getrieben, von Kälte und Regen ermüdet und mit der Versicherung beruhigt ist, er brauche weder für die Kosten des Feuerwehreinsatzes zahlen, noch werde er des Hauses verwiesen werden, lässt er sich endlich näherkommen und willigt ein, sich durch das Dachfenster nach innen ziehen zu lassen.  Dort weicht dann sein Widerstand vollends.  Er wird nach einer Stärkung mit einem Becher Kaffee vom Krankenwagen in ärztliche Behandlung gebracht.  Das Drama hatte um 0.30 Uhr begonnen und endet gegen 4.30 Uhr.

Ali Naseer Ahmed hatte nach schwerer Erkrankung in Hamburg von Bord der unter Panama-Flagge fahrenden „Rickmers Nanjing“ gehen müssen. Er lag nun schon einige Monate mit einem Nierenleiden in einem Hamburger Krankenhaus.  Es steht jetzt fest, dass das Leiden des 35jährigen Mannes unheilbar ist und er lebenslänglich auf die Dialyse, die künstliche Nierenwäsche, angewiesen sein wird.  Die ausländerrechtliche Situation ist für ihn sehr ungünstig: Er hat, da er auf Sozialhilfe angewiesen ist, kein Bleiberecht und keinerlei Chance, es je zu bekommen.  Nur auf Grund der Lebensgefahr wurde sein „vorübergehendes“ Bleiben „geduldet“.  Somit ist es auch so gut wie ausgeschlossen, ihn auf die Liste der Transplantations-Empfänger zu bringen.  Dieses ist eine typische Situation für alle ausländischen Seeleute, die nicht aus dem EG-Bereich stammen.  Er ist auf den Malediven zu Hause, einer unter Ferntouristen bekannten Inselgruppe im Indischen Ozean.  Aber auf keiner seiner Heimatinseln gibt es ein Krankenhaus mit Dialysegeräten.  An Bord war er in einer maledivischen Crew zusammen mit Landsleuten gefahren und hatte sich in seiner Muttersprache unterhalten können.  Hier in Hamburg in der Fremde ist er sprachlos.  Er versteht nur wenige Worte englisch.  Deutsch kann er gar nicht.  Die Ärzte im Krankenhaus hatten mühsam einen der drei in Deutschland lebenden Malediven als Dolmetscher aufgetrieben, der ab und zu engagiert wurde, um die Diagnose besser erstellen und ihm die für ihn wichtigen Verhaltensregeln vermitteln zu können.  Er hat zu Hause Frau und Kinder.  Aber es bleibt keine Alternative: Die Rückkehr in die Heimat zur Familie würde den sicheren Tod bedeuten, also muss er in Hamburg bleiben, muss auf Rechnung der Sozialhilfe irgendwo versorgt werden.  Wir sind bereit, ihn bei uns im Seemannsheim aufzunehmen, für ihn eine spezielle kaliumarme Diät zu kochen.  Nahrungsaufnahme und Gewichtskontrolle unterliegen einer strengen Reglementierung: pro Tag darf er nicht mehr als 1/2 Liter Flüssigkeit zu sich nehmen.  Zu Kontakten zu anderen Kollegen im Seemannsheim ist er wegen seiner Sprachlosigkeit nicht in der Lage.  Der Kollege Borowski kümmert sich als Sozialarbeiter der Seemannsmission um viele seiner Alltagsprobleme.  Wenn mal ein Schiff mit Landsleuten in Hamburg liegt, wird ein Besuch vermittelt.  Vom Seemannsheim aus soll er einen Deutschkursus für Ausländer an der Volkshochschule besuchen und bereitet sich bereits intensiv durch Lernen der wichtigsten Vokabeln und Redewendungen darauf vor.  Ein Zivildienstleistender hilft ihm bei Behördengängen und den nötigsten Einkäufen.  Dreimal wöchentlich bringt ihn ein Taxi zur Dialyse ins Krankenhaus.  Trotz aller medizinischer und sozialer Bemühung muss er nach drei Monaten im Seemannsheim eines Tages schnell per Notarztwagen ins Krankenhaus geschafft werden.  Dort verstirbt er an seinem Leiden.  Er wird auf dem Öjendorfer Friedhof nach muslimischen Riten mit Blickrichtung auf Mekka beigesetzt.  Kollege Borowski begleitet ihn auf seinem letzten Weg. 

Die tragischsten menschlichen Schicksale, die mir während meiner 27jährigen Seemannsheim-Praxis begegneten, sind die von Geisteskranken.  Diese entsetzlichen und furchterregenden Krankheiten können bei Menschen aller Rassen und Kulturen ausbrechen.

Jahrelang hatte der aus Österreich stammende Deckschreiner A. G. während seiner Hamburg-Aufenthalte friedfertig im Seemannsheim gewohnt.  Anfang Februar 1979 zieht er erneut ins Seemannsheim ein und berichtete mir, er sei geisteskrank.  Man habe ihn, von Brasilien kommend, in Frankfurt/M. aus dem Flugzeug geholt und in die Psychiatrie gesperrt.  Er machte bei seinem Einzug noch einen ganz vernünftigen Eindruck.  Vier Tage später kommt er am Abend mit irrem Blick und einem aggressiven Ton auf mich zu: „Ich brauche gleich 100,- DM.  Geben Sie mir das Geld sofort, sonst passiert was! - Ihre Frau muss mir heute noch einen Kuchen backen. - Die „Wappen von Hamburg“ wird heute Nacht untergehen.“  Mit Mühe und Not gelingt es mir, ihn wieder aus dem Büro zu drängen.  Als ich gerade die Polizei anrufen will, klirrt es und G. kommt durch die zerschlagene Bürotürscheibe auf mich zugestürzt.  Ich kann ihn mir nur mit Hilfe eines Stuhles vom Leibe halten, bis zwei Seeleute von draußen zur Hilfe kommen und kurz darauf die Polizei eintrifft.  Man bringt A. in das Psychiatrische Krankenhaus, wo er zwei Tage später wieder entläuft.

Mehrfach werfen psychisch gestörte Heimbewohner das Inventar (Stühle, Tische, Fernseher, Spiegel) ihres Zimmers durch das offene oder geschlossene Fenster.  Mitten in der Nacht klirrt und kracht es, und die Trümmer landen im Hof oder auf der Straße, auf vor dem Hause geparkten Autos. 

Ein unter Schizophrenie leidender Gast reißt einmal sämtliche Steckdosen und Lampen aus Wand und Decke, verklebt die Elektroanschlüsse, türmt alle Möbel vor der Zimmertür übereinander und schließt sich ein.  Als seine Kollegen, die mit ihm den Raum teilen, ins Zimmer wollen, muss die Tür unter Polizeischutz aufgebrochen werden.  Der Kranke sitzt eingeschüchtert auf der Bettkante und äußert seine Angst vor „der Elektrizität“.

Meistens zeigen solche psychisch gestörten Menschen leider keinerlei Krankheitsbewusstsein oder Einsicht in ihr unnormales Verhalten.  Es gelingt selten, sie davon zu überzeugen, dass sie fachärztliche Hilfe brauchen.  Amtsärzte und Polizei greifen immer erst ein, wenn schon etwas passiert ist, wenn die Kranken sich selbst ernsthaft gefährden, oder anderen erheblichen Schaden zugefügt haben.

Es geschieht an einem Sommertag im August 1991: Von meinem Büro aus vernehme ich im Seemannsheim unnatürlich schrille Schreie von der Straße Krayenkamp her.  Als ich aus dem Fenster sehe, erblicke ich einen splitternackten Afrikaner, den seit Jahren im Hause bekannten und nie unangenehm aufgefallenen 36jährigen Maschinenwart A. aus Burkina Faso (Obervolta), der einem halben Dutzend seiner Landsleute, die ihn einfangen und ihm eine Hose anziehen wollen, erheblichen Widerstand entgegenbringt.  Mit Mühe nur gelingt es ihnen, den zappelnden Mann in die Eingangshalle des Seemannsheimes zu tragen und festzuhalten.  Ich tippe sofort auf Geisteskrankheit und rufe umgehend telefonisch Polizei und Krankenwagen herbei.  Man schnallt den Kranken auf eine Bahre und bringt ihn ins Hafenkrankenhaus.

Der weitere tragische Verlauf ist dann nur noch in Radiomeldungen und Zeitungsschlagzeilen zu verfolgen: „Er flüchtete aus dem Hafenkrankenhaus.  Amoklauf auf der Reeperbahn.  Nackter Afrikaner stach wahllos Passanten nieder.  10jährige in Lebensgefahr.“ 

Das „Hamburger Abendblatt“ berichtet:

Ein Amokläufer hat am Sonntag im Hamburger Stadtteil St. Pauli sieben Gäste des Restaurants „Pfeffermühle“ und sich selbst mit einem Messer zum Teil schwer verletzt.  Ein zehn Jahre altes Mädchen, ein 15jähriger Junge und er selbst schweben noch in Lebensgefahr.  Nach Angaben der Polizei war der 36jährige Schwarzafrikaner am Sonntagmorgen ins Hafenkrankenhaus eingeliefert worden.  Gegen 14 Uhr hatte er eine Krankenschwester niedergeschlagen und war dann nackt auf die Straße geflüchtet.  Dort war alles ganz schnell gegangen.  Wenige Minuten zuvor hatte Ilona H, ihre zehnjährige Tochter Magdalene noch im Arm gehalten.  Dann kam A. aus dem Lokal am Millerntorplatz und stürzte mit einem 20 Zentimeter langen Messer auf die Mutter und ihre Tochter zu.  Er stieß die Klinge zweimal in den Brustkorb des Mädchens und verletzte ihre Lunge.  Ilona H., die 35 Jahre alte Mutter des Mädchens, schrie auf.  Sie konnte die Stiche nicht abwehren:  Der Amokläufer stach auch auf sie ein.  Magdalene brach zusammen und blieb liegen, bis der Notarzt kam.  Auch der 15 Jahre alte Schüler Ren‚ Ch. wurde lebensgefährlich durch Stiche verletzt.  „Ich schrie den Mann an, er solle das Messer fallen lassen.  Doch der Schwarze ist durchgedreht und hat auf nichts reagiert.  Auf der Straße stieß er sich sechsmal das Messer in den Bauch und stürzte zu Boden.“  Polizeimeister Hartmut Junge, der als erster am Tatort Reeperbahn eintraf, kann nur stockend erzählen, was wenige Augenblicke zuvor passiert ist.  Wir mussten ihn mit fünf Mann festhalten, damit er sich nicht selbst hinrichtet.  Erst danach haben wir die anderen Verletzten gesehen“, so der Polizist.  Gebannt sahen einige Gäste, die eben noch ruhig im Schatten der Sonnenschirme Eis löffelten oder Kaffee tranken, zu.  Oder sie liefen weg, wie P. W.  Der 30jährige: „Du glaubst gar nicht, wie du in solch einer Situation rennst.  Mich hat er zum Glück nicht getroffen.“  Je fünf Rettungs- und fünf Notarztwagen rasten zum Einsatzort.  Sie versorgten die acht Verletzten, sechs von ihnen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. - Die Eindrücke, die sich bei den Augenzeugen eingeprägt haben, werden so schnell nicht auszulöschen sein.

A. wird unter starker Polizeibewachung auf der Intensivstation des Hafenkrankenhauses wieder körperlich gesund gepflegt.  Wegen seines psychischen Leidens muss er anschließend in ein geschlossenes Haus des Psychiatrischen Krankenhauses Ochsenzoll eingewiesen werden.  Über ein Jahr später verfügt die Große Strafkammer beim Landgericht Hamburg seine unbefristete Unterbringung in der Psychiatrie.

Im Juli 1995 steht in der Zeitung:

Im Seemannsheim am Krayenkamp ließ John B. (46) Südamerikaner und Afrikaner über Handys nach Hause telefonieren - für nur 1,50 Mark pro Minute.  Die standen Schlange bei ihm.  Sein Trick: Handy-Chipkarten wurden auf fremde Pässe angemeldet, dann zahlt der angeblich Bestohlene nichts.  Jetzt klingelt’s im Busch nicht mehr so oft, John B. wurde nämlich verhaftet.

Ich hatte zuvor die Telekom angerufen und darauf hingewiesen, dass in unserem Hause Missbrauch mit Telefonkarten getrieben werde.  Die Reaktion war, das könne man ohnehin nicht beweisen.  Da hatte jemand keine Lust, sich für seinen Dienstherrn unnötig Arbeit zu machen.  Erst als ich die Information noch einmal schriftlich mit Kopie an die Kripo wiederhole, passiert etwas.

Diese Aufzählung von negativen Erlebnissen mit Seeleuten klingt recht dramatisch und kann allerdings ein falsches Bild ergeben.  Mit den meisten Gästen des Seemannsheimes komme ich sehr gut klar.

Auf die Anfrage der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, die eine Aktion „Mission vor der Haustür“ gestaltet, schreibe ich folgenden Beitrag, der in einem Buch abgedruckt wird, großes Interesse und Zustimmung beim zuständigen Referenten im Kirchenamt findet und meine Stellung als Diakon in der Arbeit in der Seemannsmission spiegelt:

„Schon in seiner Rede auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 rief Johann Hinrich Wichern die Kirchen in Deutschland dazu auf, den kirchlich entfremdeten Matrosen in ihrer geistlichen und materiellen Not in innerer Mission zu helfen.  Einzelne Christen oder Vereinigungen engagierter Kirchenmänner griffen diesen Ruf auf.  Die offizielle Kirche hat ihre Verantwortung für ihre seefahrenden Gemeindeglieder erst Jahrzehnte später akzeptiert.

Waren unsere Väter um die Jahrhundertwende und bis hinein in die 1960er Jahre mit ihren Besuchen an Bord, mit dem Verteilen von Traktaten in den Vergnügungsvierteln, mit der Beherbergung von Fahrensleuten in christlichen Seemannsheimen noch fast ausschließlich auf den deutschen Seemann gewiesen, dem im Auftrag „innerer Mission“ nachgegangen wurde, so hat sich die Situation innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte auf Grund technischer, wirtschaftlicher und soziologischer Umwälzungen sowohl an Bord der Schiffe, als auch in den Seemannsheimen revolutioniert:  Die große weite Welt ist in wenigen Flugstunden zu umkreisen.  Ein Jet-Ticket von Fernost ist immer noch billiger als die Heuer nach mitteleuropäischen Tarifen.  So kommt es, dass an Bord eines Schiffes heute unabhängig von der Nationalität des Heimathafens Besatzungen aus den verschiedenen Erdteilen miteinander oder nebeneinander ihre Arbeit verrichten.  Es herrscht an Bord vieler Schiffe heute eine babylonische Sprachverwirrung.  Im „deutschen“ Seemannsheim übernachten übers Jahr Fahrensleute aus 60 Nationen:  Christen verschiedenster Konfession, Muslime, Hindus, Atheisten...  Auf der Wand über der Koje des José aus Equador hängt der Rosenkranz.  Abdoulaye, der Motormann aus Burkina Faso in Nord-West-Afrika kniet jeden Abend um 9 Uhr im Treppenhaus auf seinem ausgerollten kleinen Teppich mit Blickrichtung Mekka und lässt sich von niemandem stören.  Carlos aus Chile zeigt stolz seinen Bibelkoffer.  Er bekennt sich als Laienprediger und holt seine iberoamerikanischen Kollegen regelmäßig zur Bibelarbeit in der kleinen Kapelle des Seemannsheimes zusammen.  Derweil lächeln einige deutsche Sailors über den „Himmelskomiker“, wie sie den Seemannspastor bisweilen nennen, wenn er sie zur Teilnahme am Sonntagsgottesdienst einlädt.  Mit herkömmlichen gottesdienstlichen Formen sind Seeleute schwer ansprechbar.  Zur Kirche haben deutsche Seeleute selten eine tiefere Bindung, nicht wenige sind ausgetreten.  Dennoch wird die Arbeit der Seemannsmission von den allermeisten Fahrensleuten seit hundert Jahren - und heute nicht minder - hoch geschätzt, geachtet und für unentbehrlich gehalten.  Mit aufdringlichen Missionierungsversuchen ist bei Hein Seemann allerdings „kein Blumentopf zu gewinnen“.  Bekennende und diakonische Präsens wird von den sehr feinfühligen Männern von der rauen See jedoch dankbar wahrgenommen nach dem Motto:  Die von der Seemannsmission kümmern sich wenigstens um uns, wenn wir sonst von der Gesellschaft auch als Randgruppe schief angesehen werden.  Und mancher ist nicht aus der Kirche ausgetreten, weil er die Seemannsmission und ihr Wirken für sich und seine Kollegen immer wieder erlebt.

 

Der Besuch des Seemannsdiakons an Bord oder am Krankenbett im Hospital der fremden Stadt, das Seemannsheim als Heimat in der Fremde, der Club im Hafen mit freundlicher Gastfreundschaft, die Ausflugsfahrt in der Freiwache mit dem Bus der Seemannsmission werden dankbar begrüßt. 

Am 31.01.1997 trete ich in den Ruhestand, drei Jahre eher als ich 1970 erhoffen konnte.

Meine Abschiedsworte lauten etwa folgendermaßen:

Ich gehe durchaus nicht mit Enttäuschung und Traurigkeit im Herzen aus dem Seemannsheim fort.  Hätte früher nicht gedacht, dass ich so freudig würde Abschied nehmen können.  Die Verhältnisse in der deutschen Seefahrt und im „R.V.“ haben sich in den letzten Jahren so gewaltig verändert, dass ich unter den erschwerten Bedingungen für jeden Tag dankbar bin, den ich nicht noch länger die Verantwortung zu tragen verpflichtet bin und lassen mich sehr zufrieden darüber sein, dass Herr Bundesinnenminister Kanter sein Vorhaben, das Pensionsalter von 62 auf 63 zu erhöhen, erst fünf Monate später rechtskräftig werden lässt!  Ich habe zwei Jahre lang gebangt, ob es mir noch beschieden sein würde, mit 62 aufhören zu können.  Dieser Job war nie ein Zuckerschlecken und wurde für mich in letzter Zeit unerträglich hart.  Wenn mein langjähriger Kollege Karl-Heinz Hansen früher im Hinblick auf seinen Ruhestand  meinte: „Zwei Hacken, eine Staubwolke“, so verstand ich ihn damals kaum, heute sehr wohl.  Ich verstehe auch den Papa in Rom in gewisser Weise schon, wenn er seine Priester nicht aus dem Zölibat entlassen will.  Für meine Familie war es schon eine Zumutung, was ich ihr angetan habe und ich bin meiner Frau dankbar, dass sie mir trotz häufigen Protestes immer den Rücken freigehalten hat. 

Meine Hoffnung ist es, dass die über hundertjährige Geschichte der Seemannsmission in Hamburg nicht schon bald ein jähes Ende findet.  Immerhin wirkten am Wolfgangsweg / Krayenkamp in 90 Jahren nur vier Hausväter.  Das besagt aber noch nicht, dass diese Kontinuität der Arbeit auch künftig zu erwarten ist.  Ich bin jedenfalls mit gutem Gewissen ausgeschieden und meine, meine Pflichten mit einigermaßen Anstand erfüllt zu haben.  Aber neue Gegebenheiten fordern neue Wege und so wird und muss sich sicher auch am Krayenkamp sehr viel ändern.  Dafür habe ich alle Optionen offen zu halten versucht.  Mögen jüngere Kräfte mit neuem Elan das Beste daraus machen.

Nach der Verabschiedung habe ich noch an der Mitgliederversammlung mit Rechnungslegung teilzunehmen und kann mich um meine teilweise weit angereisten Gäste nicht kümmern.  Am späten Abend sichere ich noch einmal die Computer, übergebe die letzten Schlüssel meinem treuen Mitstreiter Werner Lösekow und fahre in unser neues Heim nach Rissen, um fortan das Gnadenbrot zu genießen.

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